Als er auf die Tür zuging, erblickte er Gertrud, die in ihrer Ecke saß und mit ihren Glasscherben und Holzklötzen spielte. Er blieb stehen und sah sie an. Sie hatte offenbar kein Wort von der Unterhaltung gehört, ihre Augen strahlten vor Freude. Ihre Wangen waren noch röter als sonst.
Der Pfarrer war betroffen von dem Gegensatz zwischen dieser großen Sorglosigkeit und seinem eigenen schweren Kummer, und er trat zu ihr hin.
»Was machst du da?« fragte er.
Das kleine Mädchen hatte längst ihren Kirchsprengel fertig. Sie hatte ihn schon wieder niedergerissen und mit etwas Neuem begonnen.
»Wäre der Herr Pfarrer nun ein klein wenig früher gekommen,« sagte das Kind. »Ich hatte so einen schönen Kirchsprengel mit Kirche und Schule.«
»Wo ist denn das geblieben?«
»Ja, nun habe ich den Kirchsprengel auseinandergerissen, jetzt bin ich dabei, Jerusalem zu bauen.«
»Was sagst du da?« sagte der Pfarrer heftig. »Sagst du, daß du den Kirchsprengel auseinandergerissen hast, um Jerusalem aufzubauen?«
»Ja,« sagte Gertrud, »es war wirklich ein hübsches Kirchspiel; aber gestern haben wir in der Schule von Jerusalem gehört, und nun habe ich das Kirchspiel zerstört, denn ich will lieber ein Jerusalem bauen.«
Der Pfarrer blieb stehen und sah das Kind an. Er strich sich über die Stirn, wie um Klarheit in seine Gedanken zu bringen. »Wahrlich, da ist einer, der größer ist als du, und der durch deinen Mund redet,« sagte er.
Die Worte des Kindes erschienen ihm so merkwürdig, daß er sie sich einmal über das andere Mal wiederholte. Während er das tat, glitt er in seinen gewöhnlichen Gedankengang hinein und begann wieder darüber zu grübeln, wie Gott die Welt lenkt, und welcher Mittel er sich bedient, um seinen Willen durchzusetzen.
Er ging wieder zu dem Schulmeister zurück und sagte mit seiner gewöhnlichen, freundlichen Stimme und mit einem ganz neuen, klaren Ausdruck in dem Auge:
»Ich bin nicht mehr böse auf Sie, Storm, Sie tun wohl nur, was Sie tun müssen. Ich habe mein Leben lang darüber nachgegrübelt, wie Gott die Welt lenkt, aber ich habe nie zur Klarheit darüber gelangen können. Auch dies begreife ich nicht, aber ich begreife, daß Sie tun, was Sie tun müssen.«
»Sie sahen den Himmel offen«.
In dem Frühjahr, wo das Missionshaus gebaut wurde, trat plötzlich Tauwetter ein, und das Wasser im Dalelf stieg hoch. Es war erstaunlich, das Wasser zu sehen, das in diesem Jahre da war. Es regnete vom Himmel herab, es kam in großen Strömen von den Bergen gestürzt, es rieselte aus der Erde heraus; da stand Wasser in jeder Wagenspur und in jeder Pflugfurche; es sah aus, als sei es überall, und alles Wasser suche sich einen Weg nach dem Fluß hinab zu bahnen, der höher und höher schwoll und mit immer stärkerer Eile dahinrollte. Es war nicht dunkel und blank und still wie gewöhnlich, sondern gelbgrau von all dem trüben Wasser, das in ihn hinabströmte, und wie er daher gerauscht kam, voller Balken und Eisblöcke, sah es wunderlich unheimlich und drohend aus.
Im Anfang achteten die Erwachsenen nicht weiter auf die Wasserflut, sondern nur die Kinder, die unten am Elf standen, sobald sie eine freie Stunde hatten, und den rasenden Strom sahen, und alles, was er mit sich führte.
Bald waren es nicht nur Balken und Eisblöcke; es kam noch viel mehr als das. Er kam dahergeschwommen mit Waschbrücken und Badehäusern, und bald darauf kam er mit Booten und Stücken von zerstörten Flußbrücken.
»Er nimmt wohl auch bald unsere Brücke mit, ja, das tut er,« sagten die Kinder. Sie waren ein wenig ängstlich, aber die Freude darüber, daß etwas so Merkwürdiges geschehen würde, war doch überwiegend.
Plötzlich kam eine große Tanne mit Wurzeln und Zweigen dahergetrieben, und hinter ihr drein segelte eine Espe mit ihrem weißen Stamme, und vom Ufer aus konnte man sehen, daß die dicken Zweige große Knospen hatten, die infolge des langen Bades schwollen. Und ganz dicht hinter den Bäumen her kam ein kleiner auf den Kopf gestellter Heuboden. Er war noch voller Heu und Stroh, und schwamm auf seinem Dach, wie ein Boot auf seinem Kiel.
Aber als erst solche Gegenstände vorübergetrieben wurden, gerieten die Erwachsenen auch in Bewegung. Sie sahen, daß der Elf irgendwo nordwärts über seine Ufer getreten sein mußte, und eilten nun mit Stangen und Bootshaken an den Strand, um Gerätschaften und Gebäude an Land zu bergen.
Ganz im Norden des Kirchspiels, wo das Land nur spärlich bebaut war, und wo nur wenige Menschen wohnten, stand Ingmar Ingmarsson allein am Flußufer. Er war jetzt über die Fünfzig hinaus, und sah älter aus als seine Jahre. Das Gesicht war grob und gefurcht, der Rücken war gebeugt, er sah ebenso unbeholfen und hilflos aus wie immer.
Er stand da und stützte sich auf einen langen, schweren Bootshaken und sah mit einem stumpfen und schläfrigen Blick über den Fluß hinaus. Der Fluß brauste und schäumte und glitt stolz mit allem vorüber, was er von den Ufern geraubt hatte. Es sah so aus, als ob er den Bauer wegen seiner Langsamkeit verhöhne; es war, als sage er: Du wirst es nicht sein, der mir etwas von dem entreißt, womit ich mich belastet habe!
Der Bauer sah Flußbrücken und Bootsrümpfe dicht an sich vorüber segeln, ohne einen Versuch zu machen, sie zu retten. Das wird schon im Kirchdorf geborgen werden, dachte er.
Und doch verwandte er kein Auge von dem Elf, sondern beobachtete alles, was da, vorüberfloß. Plötzlich kam, eine gute Strecke von ihm entfernt, etwas schimmernd Gelbes auf einigen zusammengenagelten Brettern geflossen, und er entdeckte es augenblicklich. »Ja, darauf habe ich schon lange gewartet,« sagte er laut zu sich selbst. Er konnte noch nicht sehen, was das Gelbe war, aber für den, der weiß, wie die Kinder in Dalarne gekleidet gehen, war es leicht zu erraten. »Nun haben da wieder welche draußen auf einer Waschbrücke gesessen und gespielt, dachte er, und zwar solche, die keinen Verstand genug hatten, an Land zu gehen, ehe die Flut sie ergriff.«
Es währte nicht lange, bis der Bauer sah, daß er richtig gemutmaßt hatte. Er konnte deutlich sehen, wie drei kleine Kinder in gelben Beiderwandkleidern und gelben, runden Mützen auf einer schlecht zusammengezimmerten Brücke, die langsam von dem Strom und den zusammenprallenden Eisblöcken in Stücke geschlagen wurde, den Fluß hinabgesegelt kamen.
Die Kinder waren noch weit entfernt, aber Ingmar wußte, daß sich ziemlich nahe an seinem Ufer eine Stromschnelle in dem Fluß befand. Wenn nun Gott so gnädig sein wollte, es so zu lenken, daß die Brücke, auf der die Kinder saßen, in die Stromschnelle hineingeriet, so war es nicht unmöglich, daß er sie an Land ziehen konnte.
Er stand ganz still und sah über den Fluß hinaus. Da war es, als wenn jemand der Brücke einen Stoß gab, sie drehte sich und glitt auf sein Ufer zu. Die Kinder kamen so nahe, daß er ihre kleinen, angstvollen Gesichter sehen und ihr Weinen hören konnte.
Aber trotzdem waren sie weiter draußen, als daß er sie von dem Ufer aus mit dem Bootshaken hätte erreichen können. Er wollte an das Wasser hinab und begann in den Fluß hinauszuwaten.
Ehe er das tat, hatte er ein wunderliches Gefühl, als ob ihn jemand zurückrufe. »Du bist kein junger Mann mehr, Ingmar. Du setzt vielleicht dein Leben aufs Spiel!«
Er besann sich einen Augenblick und überlegte, ob er das Recht habe, sein Leben zu lassen. Seine Frau, sie, die er einstmals aus dem Gefängnis heimgeholt hatte, war vor ein paar Monaten gestorben, und seit der Zeit hatte er den innigen Wunsch gehabt, ihr bald nachzufolgen. Aber auf der anderen Seite war sein Sohn, der den Hof übernehmen sollte, noch nicht erwachsen. Er mußte um seinetwillen das Leben wohl noch aushalten.
»Es muß nun auf alle Fälle so gehen, wie Gott will,« sagte er.
Jetzt war er nicht mehr unbeholfen und langsam, dieser große Ingmar. Als er in den brausenden Fluß hinausging, bewegte er sich an der