Ein Leben dauert. Thomas Häring. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Häring
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738030792
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nicht auch in jenem Paradies eine biologische Notwendigkeit? Hatte Sitzl überhaupt das Recht, seine Tochter und ihre gemeinsamen Kinder in einen Keller zu sperren? Nun ja, hier scheiden sich die Geister, denn zu einer Interaktion gehören immer mindestens zwei Personen, von daher reicht es oftmals leider nicht aus, das Schwarz-Weiß-Denken zu propagieren und zwischen Täter sowie Opfer zu unterscheiden. 24 Jahre eingesperrt und das ohne ein Verbrechen begangen zu haben, das ist wirklich kraß, mir haben die neun Monate im Mutterleib völlig gereicht. Immer wieder knalle ich den Ball an die Latte und die Zuschauer jubeln mir trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen zu. Wird höchste Zeit für einen Fallrückzieher! Vorsicht, der Konter der gegnerischen Mannschaft läuft, die haben mich eingelullt, die Schweine!

      7.Spielminute

      Für die Einen ist es eine Vergewaltigung, für die Anderen die schönste Liebesbezeugung der Welt. Ja, die Geschmäcker sind nun mal verschieden, vielleicht hat sich der Ferdinand Sitzl ja tatsächlich gedacht, er würde seiner Tochter etwas Gutes tun, indem er sie im Keller einsperrt, damit vor der bösen Welt da draußen beschützt und sie regelmäßig mißbraucht, denn er war ja quasi der Einzige, der sie körperlich befriedigen konnte, von daher plädierte der alte Sack natürlich auf nicht schuldig. Selbstverständlich hat er es in allererster Linie für sich getan, denn er war, bleibt und ist ganz bestimmt nicht der einzige Mann auf der Welt, der davon träumt, eine Zweitfamilie im Keller zu haben, die man regelmäßig besuchen und wo man sich in jeglicher Hinsicht abreagieren kann. Der Unterschied zwischen dem Ferdl und dem Rest der Männerwelt besteht wohl in allererster Linie einzig und allein darin, daß er seinen Traum in die Wirklichkeit umgesetzt hat und das macht ihn in den Augen der Gesellschaft zu einem Monster, beziehungsweise zu einem Vorbild, kommt ganz auf die eigene Gesinnung an. Jetzt aber wieder schleunigst zurück in mein eigenes Leben, denn dort geht es auch drunter und drüber. Meine Mama hat meinen neuen Papa rausgeschmissen, weil sich der lieber mit mir beschäftigte als mit ihr und ich war stinksauer. Seitdem schleppt sie jede Woche einen neuen Kerl an, ich kann das ganze Theater schon längst nicht mehr ernst nehmen, weshalb ich mir erst gar nicht die Mühe mache, mir die Namen von den Typen zu merken, da ich ja weiß, daß sie in wenigen Tagen ohnehin schon wieder verschwunden sein werden. In der Schule habe ich massive Probleme, denn ich langweile mich ohne Ende und sobald ich unsere Lehrerin begrapsche, bekomme ich eine Anzeige wegen sexueller Belästigung und da muß ich echt aufpassen, schließlich bin ich ja bekanntlich bereits vorbestraft. Mein Leben bereitet mir nur wenig Freude, einzig und allein auf dem Fußballplatz fühle ich mich zuhause, doch da gibt es ja immer so einen nervtötenden Schiedsrichter, der mir meistens tierisch auf die Eier geht. Andauernd werde ich zurückgepfiffen und in der Pause bekomme ich vom Trainer einen Anpfiff, weil ich ständig foule, nie abspiele und hundertprozentige Chancen auslasse. Er als Alkoholiker kann das natürlich überhaupt nicht nachvollziehen, wie man etwas Hundertprozentiges liegen lassen kann. Na ja, ich laviere mich überall so durch, in der Schule haben wir andauernd Prüfungsstreß und daheim sitzt immer ein anderer Besamer an unserem Frühstückstisch. Da möchte man sich am liebsten im Keller verstecken, aber das darf man heutzutage ja auch nicht mehr, weil da dann gleich die neugierigen Nachbarn aufmerksam werden und sich fragen, was in der Familie wohl so alles schief läuft. Ich für meinen Teil krieche auf dem Zahnfleisch daher, wenn das mein Leben sein soll, dann wird das eine ziemlich üble Sache.

      8.Spielminute

      Habe meine erste richtige Schlägerei siegreich überstanden. Das Spiel hatten wir zwar mit 2:4 verloren, aber das Aufeinandertreffen danach konnten wir ganz klar für uns entscheiden. Jetzt hat mich der Berliner Fußballverband doch tatsächlich für ein halbes Jahr gesperrt und das nur, weil ich dem gegnerischen Trainer in die Eier getreten hatte, nachdem jener mit hochrotem Kopf auf mich zugelaufen war und mich als "üblen Treter" bezeichnet hatte; eine Beleidigung, die ich natürlich als Steilvorlage annahm und gekonnt bestätigte. Schön langsam geht mir das alles hier tierisch auf den Zeiger. Meine Mama schleppt immer komischere Typen an, manche von denen sprechen kein, oder nur gebrochen, beziehungsweise erbrochen Deutsch, Fußball darf ich nur noch unter Ausschluß der Öffentlichkeit spielen, also lediglich auf dem heimischen Trainingsplatz und in der Schule kassiere ich lauter schlechte Noten und das, obwohl das Niveau an den Berliner Schulen bekanntermaßen unterirdisch ist. Meine Mama denkt inzwischen ernsthaft darüber nach, ob sie mich nicht an eine Schule mit lauter ausländischen Kindern wechseln läßt, weil dort meine Dummheit nicht sofort so ins Auge stechen würde. Obwohl, was heißt hier schon Dummheit? Nennen wir es lieber Faulheit oder mangelnde Einsicht. Wozu soll ich Sachen lernen, die ich in meinem ganzen noch folgenden Leben nie benötigen werde? Na also, mal wieder habe ich Recht und die Anderen sind wie immer die Vollidioten. Ich habe bereits damit begonnen, eine Liste mit den Leuten anzufertigen, die ich auf der Stelle erschießen würde, wenn ich nur könnte. Dafür, daß ich erst sieben Jahre alt bin, ist das Ding extrem lang geworden, vielleicht muß ich da irgendwann Kürzungen vornehmen, obwohl ich viel lieber die Leute auf meiner roten Liste einen Kopf kürzer machen würde. Wieder einmal gelingt es mir nach einer Ecke nicht, den Ball über die Linie zu drücken, der gegnerische Torwart, in dem Fall der Schuldirektor, wehrt meinen Schuß ab, indem er sich weigert, mich an der Rütli-Schule zuzulassen. Also früher waren die nicht so anspruchsvoll gewesen.

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