»Ja, das scheint eine mögliche Erklärung zu sein«, meint Brian. Er fährt fort: »Und der Armreif hat dich offensichtlich auserwählt, da du etwas Wärme verspürtest. Somit konntest du ihn zur Verstärkung deiner ungeübten Fähigkeiten nutzen. So lässt sich erklären, warum diese Zauberworte wirksam wurden.
Auch wenn du den Armreif unbedenklich nutzen könntest, solltest du das unterlassen. Falls mit dem Anlegen des Reifs jedes Mal diese Art Signal gesendet wird, könnte das wieder einen Angriff herauf beschwören. Die dunklen Zauberer würden dir den Armreif leicht nehmen, wenn dann vielleicht kein Beschützer zur Stelle wäre. Deine körperlichen und magischen Kräfte können dir keinesfalls helfen. Du kennst dich ja noch nicht wirklich in Magie aus. Deine Erinnerung hat dir vorhin zufällig geholfen, aber das beruht nicht auf Wissen!«
Eila nickt bestätigend: »Es wird wohl eine Art Signal gesendet, das von Wächtern in der magischen Welt empfangen werden kann. Das Signal identifiziert möglicherweise den jeweiligen Armreif. Anscheinend wird der Ort der Signalaussendung dabei nur ungefähr bekannt, sonst hätte die dunkle Gestalt nicht danach suchen müssen. — Falls ich den Armreif nutze, könnte ich mit etwas Glück dem Zugriff durch die dunklen Zauberer entgehen. Vielleicht kenne ich bis dahin auch genügend Zaubersprüche, um mich wirksam zu schützen. Auf jeden Fall werde ich ihn dann ständig um meinem Handgelenk belassen. Somit würde er nicht jedes Mal neu aktiviert und es gäbe keine weiteren Signalaussendungen. Meine anschließenden Aufenthaltsorte blieben damit anderen verborgen!
Aber ich werde den Armreif vorläufig nicht magisch nutzen, sondern ihn als Schmuck tragen.« Damit legt sich Eila den Armreif um ihr rechtes Handgelenk.
Mittlerweile ist es spät geworden. Der Mittag und Nachmittag sind wie nur ein Gedanke verflogen. Sie verspüren beide großen Hunger. Der Großvater zündet den Kamin und mehrere Kerzen an. Dann holen sich beide heißen Kakao und etwas zu Essen aus der Küche. Sie setzen sich ins Wohnzimmer in die beiden Ohrensessel und fühlen sich nach dem Essen angenehm wohl. Ihre Augen fallen ihnen fast zu, so erschöpft sind sie.
»Kannst du mir einen Beschützer für die Reise besorgen? Großmutter war davon überzeugt, dass du einen geeigneten kennst.«
»Natürlich werde ich das, da ich nicht mit darf!« Er zwinkert ihr zu. »Mairead kannte ihn auch. Darum hat sie in ihrem Brief erwähnt, dass er geeignet ist.«
»Wer ist das denn, ein anderer Zauberer?«
Der Großvater lächelt: »Nein, kein Zauberer. Er heißt Albin. Mehr verrate ich dir heute nicht. Alles Weitere erfährst du, wenn du ihn siehst!«
Damit löscht er die Kerzen.
»Und jetzt ab ins Bett. Du musst dich unbedingt ausruhen!«
Vom Flur gelangt Eila über eine kleine Treppe in den oberen Teil des Hauses, wo sich zwei große Schlafzimmer an den Giebelseiten des Hauses befinden. Ein zweiflügeliges Fenster mit Oberlicht befindet sich ebenso in jedem Zimmer, wie darunter stehende Waschtische mit Schüsseln und Krügen darauf.
Die großen Betten und Schränke sowie die Stühle mit den gebogenen Beinen und Rückenlehne wirken zwar etwas altmodisch, aber durch den hellen Anstrich doch gemütlich. Trotz vieler Teppiche knarren etliche der Dielen des Holzfußbodens beim Herüberlaufen.
In dem links befindlichen Zimmer ist Eila aufgewachsen. Sie kennt jede Maserung des Holzbodens und weiß die unterschiedlich knarrenden Töne den einzelnen Dielen zuzuordnen.
Aufbruch
Der folgende Tag vergeht mit vielen Vorbereitungen.
Ein großer Rucksack wird gepackt und Wanderschuhe bereitgestellt. Maireads Ensiculus Chartorum kommt ebenso wie das Buch »Anwendung magischer Sprüche« in den Rucksack. Eila möchte weitere magische Worte und deren Wirkung kennenlernen, sie will danach in dem alten Buch suchen. Vielleicht muss sie ja doch weiteren Zauber auf ihrer Reise anwenden.
Am Abend sitzen sie, vermutlich für längere Zeit zum letzten mal zusammen im Wohnzimmer. Jeder hält eine dampfende Tasse Kakao in den Händen.
Brian ist aufgeregt: »Sei bitte vorsichtig auf deiner Reise. Ich habe Mairead sehr selten begleiten dürfen. Trotzdem weiß ich, dass es böse Zauberer gibt. Diese können dir gefährlich werden, dich vielleicht sogar töten!«
Eila schaut ihren Großvater liebevoll an: »Das werde ich! Aber pass du auch auf dich auf. Schone dich und drücke mir die Daumen, dass ich Erdmuthe schnell finde.«
Sie hatten in Maireads Schriftstücken und in den alten Büchern den Standort des Klosters »Das heilige Kreuz« erst nach langer Suche gefunden. Eila wird mit dem Zug fahren, aber auch längere Strecken zu Fuß zurücklegen müssen. Das Kloster befindet sich weiter im Süden, etwa in der Mitte des Landes.
Der Großvater und Eila sitzen noch lange zusammen im Wohnzimmer, während draußen der Wind heult und ein heftiger Sommerregen gegen das Fenster gedrückt wird. Eila blickt plötzlich auf: »Wenn ich morgen abreise, wann kommt dann Albin? Ich kenne ihn doch noch nicht einmal.«
Großvater lächelt: »Du wirst Albin morgen kennenlernen. Keine Angst, er passt zu dir und du wirst ihn mögen. Aber jetzt gehe zu Bett und schlafe gut!« Er haucht ihr einen Kuss auf die Stirn und löscht die Kerzen.
»Gute Nacht und schlafe auch du gut.« Eila begibt sich nach oben und hört den Regen aufs Dach trommeln.
In der vergangenen Nacht konnte Eila erst nicht einschlafen. Sie war gestern Abend viel zu aufgeregt von allem Erlebten, besonders wegen der Mitteilungen ihrer Großmutter. Auch die bevorstehende Reise und mögliche Gefahren sorgten für Unruhe. Die Gedanken rasten lange durch ihren Kopf. Erst mit beginnendem Morgengrauen fiel sie in einen leichten, unruhigen Schlaf.
In dieser Nacht ist es nicht so. Kaum liegt sie im Bett, ist sie auch schon eingeschlafen. Sie hört weder den Regen, noch wie Brian das Haus verlässt. Einer regnerischen Nacht folgt ein heiterer Morgen. Eila steht auf. Großvater ist verschwunden, er ist nirgends zu finden. Sie bereitet trotzdem ein Frühstück und wartet.
Brian taucht erst am späten Vormittag, und dazu noch völlig durchnässt, wieder auf. Begleitet wird er von einem riesigen, grauen Hund mit zotteligem Fell.
»Leider hat es wegen des Regens doch länger als erwartet gedauert. Die Wege waren teilweise überspült und sehr glitschig.« Eilas Großvater stellt seinen knorrigen Wanderstock in die Ecke des Flurs, atmet durch und fährt fort. »Das ist Albin — der beschützende Freund. Ich habe ihn heute Nacht von einem alten Einsiedler in den Bergen geholt. Er ist treu und erprobt im Kampf, nicht nur gegen Wildkatzen und Wölfe. Er wird auf der kommenden Reise dein Begleiter sein. Du darfst ihn auf unbegrenzte Zeit behalten, wenn Albin es möchte.«
Albin möchte!
Er läuft auf Eila zu und stupst mit der Schnauze ihre rechte Hand an. Eila legt ihre feingliedrige, schmale Hand auf seinen Kopf und schaut in seine treuen Augen. Sie fühlt sich in der Nähe des riesigen Tieres gleich beruhigt und wieder sicherer. Die durchgestandenen Ängste und Sorgen der vorletzten Nacht sind verschwunden.
Nach dem späten Frühstück ist es schon fast Mittag und der Zug, den Eila auf der ersten Etappe benutzen möchte, ist heute nicht mehr zu erreichen. Darum wird der Aufbruch verschoben und für den nächsten Vormittag festgelegt. Eila fühlt sich wegen der bevorstehenden Trennung vom Großvater sehr traurig. Sie sorgt sich um ihn, da er nicht mehr so rüstig und agil wie bisher erscheint.
»Hoffentlich hat er sich in der Nacht keine Lungenentzündung zugezogen«, denkt sie.
Nachmittags sitzt Brian lesend in seinem Ohrensessel, während Eila und Albin auf einer der Wiesen in der Nähe herumtollen. Als sie nach einem anschließenden Spaziergang zurückkommen, ist Großvater — wie so oft in letzter Zeit — in seinem Sessel eingenickt. Auf seinen Knien sieht sie ein aufgeschlagenes Fotoalbum. Seine Hand ruht auf einem Bild von Mairead.
Eila