Was uns alle sehr erstaunt hatte: Bevor Marwa sich zu Tisch setzte, ging sie mit einem kleinen Gerät durch Freds Wohnung. Wie sie uns hinterher erklärte, prüfte das Gerät alle erdenklichen Frequenzbereiche und zeigte bestimmte Anomalitäten an. Sie tastete sogar Freds Esstisch von unten ab. „In den meisten Privatwohnungen sind noch keine Minispione installiert. Das wäre einfach zu aufwendig“, war ihr Fazit.
Ich war sehr beeindruckt von Marwa. Bei Anna hingegen bemerkte ich ein kleines Grinsen. Sie hatte ihren Mundwinkel verzogen, während sie Marwa den Tisch abtasten sah. Vielleicht glaubte sie ihr nicht. Vielleicht glaubte sie auch nicht, dass der Staat seine Bürger abhörte.
Obwohl Freds Wohnung abhörfrei zu sein schien, traute Marwa der Sache doch nicht ganz. Waren die Abhörspione abgeschaltet, konnte ihr Gerät sie nicht erkennen. Nur in Funktion sendeten sie Frequenzen aus. Daher sprachen wir nicht über das Wichtigste: wie wir im Sterbehotel auf Fehmarn vorgehen wollten, um den Staat zu entlarven. Wir diskutierten allerdings darüber, wie wahrscheinlich es war, dass aus den Sterbehotels niemand mehr lebend zurückkam.
„Ihr werdet sehen, wir fahren hin, haben auf Staatskosten unseren Spaß im Hotel und sind nach den zwei Wochen wieder zu Hause“, flötete Anna.
Mir war nicht ganz klar, worauf sich ihre harmlose Sicht der Dinge stützte, und ich erwähnte unsere Nachbarn, die Lehmanns.
„Das mit den Lehmanns war wirklich ein bisschen seltsam“, gab nun auch Anna zu. „Aber kennst du sonst noch Leute, die nicht mehr zurückkamen?“
Ich musste zugeben, außer den Lehmanns niemanden zu kennen.
Anna bezweifelte dann auch, dass wir überall ausspioniert würden.
Auf belebten Straßen und öffentlichen Plätzen waren zwar Überwachungskameras angebracht. Die stammten aber noch aus der Zeit vor der Regierung der BP und hatten mit den terroristischen Anschlägen zu tun, die das Land erleiden musste.
Marwa beurteilte es pragmatisch: „Jeder Staat, der gegen die Interessen der Bürger arbeitet, zum Beispiel ihre wichtigsten Rechte einschränkt, muss seine Bürger überwachen, um sich am Ruder zu halten. Der Bürger eines übergriffigen Staates ist immer ein potenzieller Staatsfeind, den der Staat in Schach halten muss.“
Anna zuckte nur mit den Schultern. Und Max murmelte dunkel: „Zum Glück muss das meine Irmgard nicht mehr miterleben.“
Kapitel 10
Die Zeit raste. Ich fühlte mich schwer unter Druck. Ich wollte noch alles tun, was mir wichtig war. Eine letzte Reise kam nicht mehr infrage. Dafür war die Zeit zu knapp. Aber ich ging an die Plätze in meiner Stadt, die wichtige Erinnerungen für mich bargen. Erinnerungen, die mich immer noch glücklich machten. Ich suchte den kleinen Schulpark auf. Die im Kreis angepflanzten Büsche standen noch an Ort und Stelle. Sie boten jetzt sogar ein noch besseres Versteck. Dort hatte ich zum ersten Mal einen Jungen geküsst. Oder besser, er hatte mich geküsst. Er war viel attraktiver gewesen als ich, und es kam für mich daher völlig unerwartet. Ich ließ mich ins Gebüsch ziehen, ließ ihn machen, stellte mich einigermaßen tollpatschig an. Der schönste Moment war, als ich danach noch eine Weile alleine dortblieb. Ich freute mich unbändig und ich triumphierte. Wenn man jung ist und man bekommt etwas so Schönes, Unerwartetes geschenkt, denkt man, man hätte es verdient und es ginge von nun an so weiter. Meistens korrigiert das Leben einen solchen Übermut sehr schnell. Ich vermute, jeder hat so einen frühen Moment des Triumphes erlebt. Und vielleicht hätten sich noch weitere Momente an den einen schönen Moment gereiht, wenn man nicht triumphiert hätte. Wenn man nichts weiter erwartet hätte. Wenn man einfach nur den Augenblick genossen hätte, ohne Rücksicht auf ein Morgen. Aber wie soll man in dem Alter wissen, dass das Leben kein Freifahrtschein ist?
Ich besuchte eine Menge Orte, an denen ich hing: das alte Hallenbad, in dem wir Schwimmunterricht gehabt hatten. Die Stimmen hallten in dem hohen Gewölbe merkwürdig nach. Das Plätschern des Wassers klang besonders. Alle Geräusche wurden verstärkt und gleichzeitig runder im Ton. Schwimmen war jedes Mal ein Fest gewesen in dem alten Gebäude. Ich setzte mich nochmal in die Bibliothek, in der ich oft Romane gelesen hatte, atmete den Geruch der alten Bücher ein, der mit Kaffeeduft vermischt war. Ich versuchte, meine liebsten Freundinnen und Freunde zu besuchen oder wenigstens anzurufen. Ich brachte es aber nicht fertig, mit ihnen über das Sterbehotel zu reden. Ich wollte sie unbeschwert treffen, so als sei alles in Ordnung. Wenn jemand schwer krank ist, erzählt er das auch nicht allen und genießt es, von denen, die es nicht wissen, für gesund gehalten zu werden.
Innerhalb einer Woche hatte ich das Wichtigste erledigt. Anna, Max, Fred und Marwa taten nichts dergleichen. Anna ging ganz normal ihren täglichen Beschäftigungen nach, als wäre nichts anders. Sie war ja auch davon überzeugt, wir kämen von Fehmarn wieder zurück. Mir war wirklich schleierhaft, weshalb sie unserem Staat vertraute. Fred und Marwa verbrachten ihre Zeit mit Planungen. Sie kundschafteten im Internet die Insel aus und Marwa stellte eine Ausrüstung zusammen. Ihnen fehlte schlicht die Zeit, ihrem vergangenen Leben nachzutrauern. Vielleicht wollten sie es auch gar nicht. Fred hatte endlich wieder ein Projekt, das war für ihn wichtiger als alles andere. Und Marwa schätzte ich als nüchtern und pragmatisch ein. Sie konnte völlig in einer Aufgabe aufgehen, wobei für sie rationale Lösungen an erster Stelle standen und Gefühle warten mussten. Max tat nur eine Sache, die meinem Tun ein bisschen ähnelte. Er besuchte das Grab seiner Frau, was er vordem nicht getan hatte. Es hatte ihn zu sehr deprimiert. Ich konnte mir vorstellen, dass er am Grab Zwiesprache mit seiner Irmgard hielt. Vielleicht teilte er ihr mit, er käme bald nach.
Kapitel 11
Es waren noch drei Tage bis zu unserer Abfahrt. Das Gesundheitsamt hatte uns mitgeteilt, wir würden vom Bus vor unserer Haustüre abgeholt. Von einem komfortablen Kleinbus für gerade mal sechs Personen.
Am Abend trafen wir uns wieder bei Fred. Auch Marwa war da. Niemand störte es, dass es wieder Toast mit Ananas und Schinken aus der Mikrowelle gab. Sogar die Sauerkirsche in der Mitte der Ananas fehlte nicht.
Fred und Marwa kannten inzwischen die gesamte Insel. Und das Beruhigende war, es gab ganz in der Nähe des Hotels eine Fähre der Scandlines, die nach Dänemark übersetzte. Sie fuhr die 18 km zwischen Puttgarden und Rödby jede halbe Stunde hin und her, immer 15 und 45, auch die ganze Nacht durch. Im Notfall konnten wir sie vom Hotel aus über den Strand erreichen. Es wäre ein zwanzigminütiger Fußmarsch. Man musste sich allerdings ranhalten. Mein Herz klopfte, meine Stimmung verbesserte sich schlagartig. Wahrscheinlich schüttete mein Gehirn Glückshormone aus. Unser Schicksal war also noch nicht endgültig besiegelt. Und ich würde in dieser Nacht ruhig schlafen können.
Sicher, die Dänen wiesen Deutsche ohne Geld wieder aus. Aber von dort könnte man weiterziehen und weiter …
Nicht nur ich war erleichtert, auch die anderen hoben die Gläser. Nur Max lächelte nicht. Er trank einen Schluck, verzog keine Miene und starrte vor sich hin ins Leere.
„Was überlegst du, Max?“, fragte ich ihn.
Er erschrak. Dann antwortete er: „Ich musste nur eben an Diedrichson denken. Er wohnt gegenüber. Hat sich umgebracht. Wusstet ihr das?“
Fred und Marwa hatten noch nichts davon gehört.
„Sie haben ihn in den Tod getrieben. Da bin ich mir sicher“, sagte Max leise.
Anna machte „Pffft“ und verdrehte die Augen. „Der Mann war letztlich ganz alleine dafür verantwortlich, was er tat.“
Max zuckte nur mit den Schultern. „Diedrichson ist nicht der einzige Arbeitslose, der sich umgebracht hat. Ich weiß das von meinem Cousin“, erklärte er eindringlich.
„Woher