Obwohl Rosalie und ich nach acht Jahren der Präsidentschaft Trumps schon viel Menschenverachtendes vom ihm gehört hatten, spürten wir, dass es dieses Mal größer war. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass es ausgerechnet uns traf, bei eins zu fünf Millionen stand und nicht mal klar war, ob Trump damit überhaupt durchkommen würde, hatte Rosalie echte Angst. Ich nicht, zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Ein Fehler, wie ich schon bald spüren sollte.
„Einen wird es also treffen, vorausgesetzt, das alles findet wirklich statt. Wie hoch ist schon die Wahrscheinlichkeit, dass es ausgerechnet uns trifft?“, versuchte ich Rosalie zu beruhigen. „Eins zu fünf Millionen, würde ich sagen. Da gewinnen wir eher im Lotto.“
„Richtig, eins zu fünf Millionen“, erwiderte Rosalie und fing heftig an zu weinen.
Trumps Ankündigung hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Nicht nur bei uns. Seit Wochen schon schlug er immer härtere Töne gegen die Mexikaner in den USA an, und viele seiner Anhänger hörten ebendiese Töne nur zu gerne. Acht Jahre Donald Trump hatten einen tiefen Graben durch Amerika gerissen. Er trennte Familien, Freunde und Arbeitskollegen in zwei Lager, die sich immer verbitterter gegenüberstanden. Aber bisher hatte es stets noch eine leise Hoffnung gegeben, diesen Graben eines Tages auch wieder überwinden zu können, sobald Donald Trump nicht mehr Präsident war. Doch mit seiner Ankündigung und der immer realistischer werdenden Möglichkeit, dass Trump die Wahl tatsächlich gewinnen konnte, hatte er den Graben in Zement gegossen und bis zum Rand mit Hass gefüllt. Die Zeit der Argumente und der Suche nach Gemeinsamkeiten war endgültig vorbei.
Mit einer einzigen Rede hatte Trump die Nation endgültig in für ihn oder gegen ihn geteilt, dazwischen gab es nichts mehr. Er ließ den Menschen keinen Raum, sich nicht der einen oder der anderen Seite anzuschließen. Er hatte die Nation am Nacken gepackt und hielt sie über den Abgrund. Jedem sollte klar sein, dass er jederzeit bereit war loszulassen. Aber meinte er es mit seiner Ankündigung wirklich ernst? Er konnte es nicht ernst meinen! Man würde in einer ganzen Woche nicht genügend Zeit finden, um all die Argumente aufzuzählen, die gegen diesen völlig irrsinnigen Plan sprachen. Und trotzdem erwarteten die Menschen, dass er ihn umsetzen würde. Die einen erwarteten es mit Freude, die anderen mit Angst. Wen würde es zuerst treffen? Das wussten nur die Menschen, die für den Präsidenten die Abschiebelisten erstellt hatten. Und auf denen standen ganz oben sicher nicht die bösen Menschen, die es unter Mexikanern wie unter allen anderen Menschen, Amerikanern zum Beispiel, natürlich gab. Auf diesen Listen standen diejenigen ganz oben, die ein vorbildliches Leben führten, von denen die Behörden wussten, wo sie waren und dass sie bei einer Abschiebung keinen Widerstand leisten würden. Menschen wie wir.
War der Plan überhaupt mit dem Gesetz vereinbar? Das war Trump ganz sicher egal. Und erst recht seinen Anhängern. Für sie war der Präsident der einzige Politiker, der tat, was getan werden musste. Und Trump wurde nicht müde, den Menschen zu erklären, dass er gar kein Politiker sei, sondern ein Manager, der Dealmaker, der das Beste für Amerika rausholte. Und nur für Amerika. Dass er sich und seine engste Familie auf Kosten der Steuerzahler persönlich bereicherte, störte seine Anhänger dabei ganz offensichtlich nicht. Der Präsident verfuhr hier wie in so vielen anderen Bereichen seiner Präsidentschaft: Er handelte. Ob und inwieweit dieses Handeln mit dem Gesetz in Einklang stand, sollten andere klären. Und wenn irgendein hawaiianischer Richter meinte, es sei mit der Verfassung nicht vereinbar, würde es eben der Supreme Court richten, den Trump für seine Zwecke auf dem Altar der christlichen Rechten geopfert hatte. Trump gab den Law-and-Order-Mann, der sich mit ernster Miene fotografieren ließ, wahlweise mit Bibel oder halbautomatischer Waffe in der Hand, immer aber mit einer Kirche im Hintergrund. Und wenigstens die Hälfte der Amerikaner liebte ihn dafür. Die größere Hälfte, wie Trump bei jeder Gelegenheit deutlich machte. Die andere Hälfte hasste oder fürchtete ihn. Oder beides gleichzeitig.
Doch Trumps Ankündigung war in der Welt. In drei Tagen sollte ein Flugzeug von einem Militärflugplatz im Süden Arizonas Richtung Mexiko starten, 70 Kilometer geradeaus bei schönem Wetter bis zur privaten Landebahn eines Geschäftsfreundes des Präsidenten. Niemand wusste, wer das war oder wo diese ominöse Landebahn sein sollte. Es gab Gerüchte, dass Trumps Maschine gar nicht nach Mexiko, sondern auf einen geheimen Militärstützpunkt, irgendwo außerhalb der Vereinigten Staaten, landen sollte. Und Trump selbst heizte die Gerüchte per Twitter nur zu gerne an.
„Die Menschen werden es sehen. Es ist eine wunderschöne Landebahn, sie ist perfekt.“ Mehr hatte er dazu nicht zu sagen.
In der Nacht von Trumps Ankündigung gab es sicher keinen Mexikaner in den USA, der ruhig schlief. Obwohl sicher kaum jemand ernsthaft daran glaubte, dass der Präsident diesen Plan wirklich in die Tat würde umsetzen können. Doch wenn Trump es wirklich ernst meinte, würde es morgen einen Mexikaner treffen. Irgendeinen.
»Unsere Ankunft in den USA« Anfang Oktober 2020.
Als ich mit Rosalie und den damals zweijährigen Mädchen im Oktober 2020 die USA erreichte, waren wir durch die Hölle gegangen. Wir waren einfach nur dankbar, mit dem Leben davongekommen zu sein. Doch was nun? Wir hatten unser gesamtes Leben von einem Moment auf den nächsten zurücklassen müssen. Unser gutes Leben. Und nun waren wir illegale Einwanderer! Doch für uns hatte es keine andere Möglichkeit gegeben, Mexiko zu verlassen, als durch einen illegalen Grenzübertritt.
Im Oktober 2020 waren wir keine wohlhabende mexikanische Familie mehr, die glücklich in ihrer Heimat lebte, sondern Asylbewerber in den USA, die das Land mit einem illegalen Grenzübertritt betreten hatten, was in den Augen von großen Teilen der Amerikaner so ziemlich das Schlimmste war, was man als Mexikaner Amerikanern antun konnte. Wir hatten genau das getan, wovor Trump seine Anhänger jeden Tag lautstark warnte. Damals wie heute. Wir waren zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt gekommen, aber wir hatten einfach keine Wahl gehabt. Wären wir in Mexiko geblieben, so wären Rosalie und ich jetzt tot und die Mädchen verschleppt.
Die ersten achtundvierzig Stunden in den USA verbrachten wir in einer Flüchtlingssammelstelle, wo wir als Familie zusammenbleiben durften, was nicht selbstverständlich war, wie ich im Nachhinein erfuhr. Hunderte Migrantenkinder waren bei der Einreise von ihren Eltern getrennt worden. Und viele blieben es sehr lang. Dutzende haben ihre Eltern gar nicht mehr wiedergesehen. In dieser Hinsicht hatten wir großes Glück. Direkt nach unserer Ankunft hatten wir den Beamten der Einwanderungsbehörde gegenüber zugegeben, dass wir ohne Visum in die USA eingereist waren. Nach den Gründen wurde in diesem Verhör nicht gefragt. Ein Haken in einem Formular war alles. Wir mussten Angaben zu unseren finanziellen und persönlichen Verhältnissen machen und schließlich unsere Pässe abgeben. Bis ein Beamter mit Entscheidungsgewalt Zeit für ein Interview mit uns hatte, waren wir zum tatenlosen Warten verurteilt.
In unseren ersten zwei Tagen in den USA waren wir, von kurzen Gängen zur Toilette abgesehen, die ganze Zeit über in einem großen fensterlosen Raum. Auch gegessen haben wir dort. Wir hatten Angst und wollten um jeden Preis zusammenbleiben. Der Raum war vielleicht dreißig Quadratmeter groß, und wir hatten ihn ganz für uns allein. Die Wände waren beige gestrichen, mit einem braunen Streifen auf Brusthöhe, der sich einmal um den ganzen Raum zog, nur unterbrochen von einer schweren grauen Metalltür mit Glaseinsatz, die aussah wie eine Gefängnistür. Und praktisch gesehen war sie das auch. Wir waren an diesem Ort gefangen, unfähig über unser eigenes Schicksal zu entscheiden. Auf dem Flur brannten vierundzwanzig Stunden am Tag