Eine solche Veranstaltung ist notwendigerweise verlogen. Ihre Sternstunden spielen sich jenseits des bürgerlichen Alltags ab, als staatsoffizielle Feiern oder patriotische Massenveranstaltungen (WM!), wo es nur noch Deutsche gibt, die sich voller Nationalgefühl in die Arme fallen. Kennzeichen der Nation sind mithin,
dass die Zugehörigkeit zur Nation Werk des Staates ist und nicht der Entscheidungsfreiheit der ihr angehörenden Individuen überlassen bleibt15 und dass die staatliche Gewalt Ursprung und dauerhafte Existenzbedingung dieser Gemeinschaft ist;
dass der Zweck der Nation sie selbst ist – einerseits unbegründbar, andererseits als über allem schwebende Phrase mit beliebigem Inhalt zu füllen;
dass alle tatsächlichen Unterschiede und Gegensätze ihrer Mitglieder für belanglos erklärt werden, sodass nationales Wir-Gefühl nur aufkommen kann, wenn die Beteiligten gerade von ihren praktischen Interessen absehen;
dass der jeweils gültige nationale Zweck von einer Herrschaft definiert wird und von einem dienstbereiten Volk ohne prüfende Nachfragen akzeptiert und praktisch umgesetzt wird,
dass sie polemisch gegen alle individuellen Berechnungen steht und umgekehrt als höchster Wert für alle ihre Mitglieder fungiert – ein Wert, der im Ernstfall die Aufopferung von Gut und Leben des gesamten Volks einfordert.3. Die Belange der Nation und kommunistische Politik lassen sich also eher schlecht miteinander vereinbaren. Das ist nicht sonderlich überraschend, sondern sehr folgerichtig – schließlich richtet sich die kommunistische Kritik genau gegen das Programm, das in »Nation« ideologisch verquast ausgedrückt wird. Während die bürgerlich-demokratischen Staaten mit der wahnhaften Irrationalität dieses nationalen Denkens nicht nur wenig Probleme haben, sondern ganz im Gegenteil in einer nationalen Leitkultur ein positives und zu förderndes Mittel kennen, ihren Gesellschaften den wünschenswerten Zusammenhalt zu verleihen, steht die kommunistische Bewegung der nationalen Ideologie kritisch gegenüber – sie definiert sich internationalistisch. In ihrer Geschichte hat sie sich mit dem Problem und der Frage der Nation allerdings von Anfang an sehr schwer getan.16 Das ist erklärungsbedürftig, ohne dass dies in diesem Rahmen geleistet werden kann. Es muss an dieser Stelle bei Andeutungen bleiben:a) Eine präzise und umfassende Bestimmung dessen, was Staat und Nation in den entstehenden kapitalistischen Gesellschaften ihrer Zeit sind, haben Marx und Engels nicht geleistet. Im »Kommunistischen Manifest« findet sich der Satz: »Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.« Das »nur« in dieser Aussage kann zumindest so gelesen werden, dass der Staat eigentlich mehr sein könne als Dienst an den Interessen der Bourgeoisie – zumal Marx/Engels betonen, dass sich die moderne Bourgeoisie selbst diesen Staat gegen seine vorherige feudale Verfasstheit erkämpft hat. Die proletarischen Kämpfe, die es seit den Anfangszeiten in den marktwirtschaftlich verfassten Staaten gegeben hat, und die wenigen praktischen Versuche, den Kapitalismus durch sozialistische Gesellschaften zu überwinden, haben sich jedenfalls mehrheitlich an dieser Vorstellung orientiert – der Idee, dass es auch eine bessere und letztlich für die Arbeiterklasse nützliche Staatsgewalt geben könne.b) Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat die Arbeiterbewegung, die den Staat bis dahin als puren Feind ihrer Lohnkämpfe und Gewerkschaftsorganisationen erlebt hatte, die ersten Ansätze einer rechts- und sozialstaatlichen Aufsicht über das Lohnarbeitsverhältnis als Zeichen dafür genommen, dass sie mit ihren Anliegen in diesem Staat nicht ganz fehl am Platz ist. Rechtliche Regelungen der Lohnarbeit (Arbeitszeit und -schutz, Sozialversicherung) hat sie nicht als Ausdruck davon begriffen, dass der Staat in der kapitalistischen Produktion den Nutznießern dieser Ordnung selbst noch das aufherrschen muss, was das Mittel ihrer Profitmacherei überhaupt auf Dauer erhält – ein paar elementare Rücksichten auf die Überlebensbedürfnisse der Arbeiterklasse. Gegen den Schluss, dass es der Staat mit seinem Recht und seiner Gewalt ist, der diese Produktionsweise mit ihren arbeiterfeindlichen Interessen durch den Schutz des Eigentums etabliert und am Leben hält, mit seiner Ordnung also all das Elend erzeugt, das er im zweiten Schritt dann eventuell abmildert, auf alle Fälle aber wirtschafts- und staatsnützlich betreut, hat sie die diesbezüglichen Aktivitäten lieber als (vermeintlich) bessere »soziale« Seite des Staats begriffen. (Ausführlich dazu Decker/Hecker 2002: 29ff.)Auch wenn sich sozialdemokratische und radikal-sozialistische Parteien in der Folge noch darin unterschieden haben, dass die einen »auf dem parlamentarischen Weg« eine genügend große Änderung des existierenden Staats für möglich, während die anderen immer noch einen regelrechten Umsturz der politischen Verhältnisse für notwendig gehalten haben – in einem sind sich »Reformisten« und »Revolutionäre« insofern ziemlich einig gewesen: in der Auffassung nämlich, Staatlichkeit überhaupt könne ganz anders und besser aussehen als der bis dato herrschende »Ausschuss der Bourgeoisie«. Die sozialdemokratischen Parteien versuchten seitdem, die Interessen der Arbeiterschaft in den demokratischen Parlamenten damit zu befördern, dass sie für Rechte und sozialstaatliche Betreuung dieser sozial benachteiligten Klasse kämpfen. Die sozialistisch-kommunistischen Parteien haben da, wo ihr Kampf erfolgreich war, realsozialistische Staatswesen organisiert, in denen den Arbeitern nach Beseitigung der bourgeoisen Ausbeuterklasse ein für allemal die ihnen zustehende Gerechtigkeit widerfahren sollte. Die ursprünglich präsente Vorstellung davon, dass staatliche Gewalt überflüssig wird, wo kein Klassengegensatz mehr existiert, der gewaltsam im Zaum gehalten werden muss, dass also in einer sozialistischen Gesellschaft »der Staat abstirbt« – diese eher kritische Ansicht über die Staatsgewalt hat sich immer mehr verloren zugunsten eines Lobs der Leistungen, die eine sozialstaatliche bzw. sozialistische Staatsgewalt erbringt. Am Ende ist eine vernebelt moralische, im sozialistischen Alltag von den Idealisten der Partei mit Inbrunst vor-, vom Rest eher opportunistisch taktierend nachgelebte Idee übergeblieben: Dann, wenn die sozialistischen Individuen sämtliche egoistisch-kleinbürgerlichen Antriebe in sich besiegt haben und sich ganz und gar eins wissen mit den Anliegen der sozialistischen Gemeinschaft, dann also, wenn jeder sich sozusagen zu einem Staat im Kleinen fortentwickelt hat, kann der Staat verschwinden.c) Diese Konsequenzen sind natürlich nicht dem kurzen, schlechten Satz im »Kommunistischen Manifest« geschuldet und auch nicht der fehlenden Staatskritik von Marx und Engels. Es verhält sich umgekehrt. Die sozialistisch-kommunistische Bewegung hat mehrheitlich trotz ihrer Kritik der kapitalistischen Ökonomie politisch weiter in den Kategorien von »guter Herrschaft« gedacht und gehandelt. Sie hat gegen die Klassengesellschaft und ihre Resultate opponiert; sie hat die unterdrückten Klassen aufgerufen, in ihrem Elend auf »kein höheres Wesen« zu vertrauen und sie hat die jeweils existierende, arbeiterfeindliche Haltung des Staats, mit dem sie es zu tun hatte, angeprangert. Aber Staat hat sie sich gleichzeitig auch anders, idealer vorstellen können – reformiert-sozialstaatlich oder gar sozialistisch-volksdemokratisch, auf alle Fälle eben gut fürs bis dahin geschundene Volk. In diesem Punkt ist die Kritik der kommunistischen Bewegungen bis zum heutigen Tag weitgehend idealistisch geblieben. (Rühmliche Ausnahme: Resultate der Arbeitskonferenz 1979)Zu diesem Standpunkt hat sich die kommunistische Opposition umso mehr vorgearbeitet, je mehr ihr in ihrem Kampf gegen nationale Bourgeoisie und Staatsgewalt als Gegner auch noch die entgegengetreten sind, deren Interessen sie eigentlich vertreten wollte. Die ausgebeuteten und unterdrückten Massen haben sich in ihrer großen Mehrheit als Volk präsentiert, d.h. als Menschen, die sich abhängig wissen von einer über ihnen stehenden Herrschaft, dieses Gewaltverhältnis für eine quasi-natürliche Lebensbedingung halten, sich eine Besserung ihrer Lebensverhältnisse bestenfalls in Form einer fürsorglichen Herrschaft vorstellen und die eigene auf alle Fälle besser leiden können als jede auswärtige. Bei den Kommunisten, die zum Kampf gegen die herrschenden Verhältnisse anstacheln wollten, hat sich dieses Volk dementsprechend vor allem danach erkundigt, ob es denn auch in Zukunft mit einer anständigen Ordnung rechnen dürfe und auf seine patriotischen Gefühle hingewiesen, zu denen der vaterlandslose Internationalismus schlecht passe. In Bausch und Bogen kritisieren wollten die Arbeiterparteien diese Anträge auf Dauer nicht – das hätte sie ganz und gar ins gesellschaftliche Abseits gestellt und ihre Position noch mehr marginalisiert – und wegen ihrer eigenen, euphemistisch gesagt, unvollkommenen Staatskritik konnten sie es auch gar nicht