Adrian sprang auf und rannte los – um sein Leben. Er musste nur schnell genug sein und das Auto erreichen, dann wäre er in Sicherheit. Mehrfach, ohne dabei seine Geschwindigkeit zu verringern, drehte er sich im Laufen zur Statue um, doch der große Mann stand dort wie sonst, starr und stumm.
Auf dem Parkplatz angekommen, riss Adrian die Autotür auf, ließ den Motor an und gab Vollgas. Bloß schnell weg hier. Er zitterte noch immer am ganzen Körper, als er den Wagen Richtung Druseltalstraße steuerte. Sollte er zur Polizei fahren? Keiner würde ihm das glauben. Er war einfach überarbeitet, das war doch offensichtlich. Adrian dachte wieder an seinen Plan in den Urlaub zu fahren. Morgen würde er ins Reisebüro gehen. Zu Hause angekommen würde er eine kalte Dusche nehmen und sich ins Bett legen. Er musste sich schonen.
Am nächsten Morgen fühlte Adrian sich erstaunlich frisch. Schon als er das rechte Auge aufschlug – er hatte die Angewohnheit, die Augen nacheinander aufzuschlagen – fiel ihm alles wieder ein. Herkules, das Grollen, der Staub, die goldenen Äpfel. Er musste plötzlich lachen. Alles war nur ein Traum gewesen. Und eigentlich konnte er doch froh sein, so etwas Interessantes zu träumen. Das passierte nicht jedem.
Er stand auf und füllte zufrieden seine Kaffeetasse. Die Kaffeemaschine war auf 7.30 Uhr programmiert gewesen. Das Radio war auch schon an. Mit einem Seufzer setzte er sich auf sein Sofa und nahm einen Schluck heißen Kaffee. Es ging ihm wieder gut. Alles halb so schlimm. Es war Samstagmorgen. Die Sonne schien. Er würde jetzt erst mal richtig schön frühstücken.
Der Radiosprecher verlas die Nachrichten. „Am Herkules im Wilhelmshöher Bergpark der Stadt Kassel, seit 2013 Weltkulturerbe, haben letzte Nacht Randalierer Teile des Oktogons zerstört. Das Bauamt Kassel schätzt den Schaden auf mehr als 10.000 Euro. Das Bauwerk musste nach eingehender Untersuchung für Besucher bis auf Weiteres geschlossen werden. Anwohner des Stadtteils Bad Wilhelmshöhe hatten gestern gegen 20 Uhr starken Lärm gemeldet. Als die Polizei eintraf, waren die Täter jedoch schon geflohen.“
Adrian stockte der Atem. Er ließ das Brotmesser fallen und hielt einen Moment inne. Dann zog er sich entschlossen seine Wanderkleidung an, schmierte sich Brote, packte auch ein paar Äpfel und zwei Flaschen Wasser in seinen Rucksack, dazu den Stadtplan, Sonnencreme und Sonnenbrille. Er musste sich unbedingt ansehen, wie er das Bauwerk zurückgelassen hatte. Er war fassungslos und gleichzeitig breitete sich ein Glücksgefühl in ihm aus.
Er beschloss, mit Straßenbahn und Bus zu fahren. Vielleicht hatte ihn gestern doch jemand beobachtet und sein Kennzeichen aufgeschrieben oder sich seinen Wagen gemerkt. Mit der Linie 3 fuhr er bis zur Endstation Druseltal und weiter mit dem Bus 22 bis zum Besucherzentrum am Herkules. Heute war deutlich mehr los. Menschenmengen schoben sich in das Gebäude und im Augenwinkel sah Adrian, dass schon der ganze Busparkplatz für Touristenbusse zugeparkt war. Die Menschen beruhigten ihn. Hinter dem Besucherzentrum stand Herkules entspannt und still auf seine Keule gestützt. Noch einmal rief Adrian sich die Worte von Herkules in Erinnerung: Er hatte ihm drei Wünsche versprochen, wenn er die goldenen Äpfel fand. Wie sollte er das bloß anstellen?
Als er vor dem Bauwerk stand, betrachtete er die Stelle, an der er am Abend zuvor gesessen hatte. Dieser Teil war nun abgesperrt. Der Basaltschutt war zu einem Haufen zusammengeräumt. Adrian blickte nach oben und sah, dass mehrere Kubikmeter Gestein fehlten. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Er hätte tot sein können.
Aber dann kam ihm der Gedanke, dass Herkules es doch anscheinend gut mit ihm meinte. Auf einmal war Adrian ganz ruhig und klar. Die Suche nach den goldenen Äpfeln konnte beginnen. Warum er plötzlich so sicher war, dass er sie finden würde, konnte er sich nicht erklären...
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