NIEDER MIT BIG BROTHER
NIEDER MIT BIG BROTHER
NIEDER MIT BIG BROTHER
NIEDER MIT BIG BROTHER
NIEDER MIT BIG BROTHER.
Er konnte nicht anders, als einen Anflug von Panik zu verspüren. Das war zwar absurd, weil das Schreiben dieser speziellen Worte nicht gefährlicher war als der anfängliche Akt der Eröffnung des Tagebuchs, aber für einen Moment war er versucht, die verdorbenen Seiten herauszureißen und das Unternehmen ganz aufzugeben.
Er tat es nicht, denn er wusste, dass es nutzlos war. Ob er NIEDER MIT BIG BROTHER schrieb oder darauf verzichtete, es zu schreiben, war unerheblich, und ob er mit dem Tagebuch fortfuhr oder es nicht weiterführte, letztlich gleichgültig: Die Gedankenpolizei würde ihn so oder so erwischen. Er hatte – und hätte selbst dann, wenn er die Feder nie zu Papier gebracht hätte – das wesentliche Verbrechen schon begangen, das alle anderen bereits in sich trug: Gedankenverbrechen. Und das war keine Sache, die sich für immer verbergen ließ. Es war zwar möglich, damit für eine Weile durchzukommen, sogar für Jahre, aber früher oder später erwischten sie jeden.
Es war immer nachts; die Verhaftungen geschahen immer nachts. Der plötzliche Ruck aus dem Schlaf, eine rauh zupackende Hand an der Schulter, blendendes Licht in den Augen, ein Ring von harten Gesichtern um das Bett. In den weitaus meisten Fällen gab es keinen Prozess, ja nicht einmal einen Bericht über die Verhaftung: Die Betroffenen verschwanden einfach, immer nachts. Ihr Name wurde aus jedem Register gestrichen, ebenso alles, was sie jemals getan hatten und gewesen waren; ihre gesamte Existenz damit zunächst bestritten und dann vergessen. Sie wurden spurlos ausgerottet, vernichtet; VAPORISIERT war der übliche Begriff dafür.
Vorübergehend wurde Winston von einer Art Hysterie erfasst. Er begann zu schreiben in einer eiligen unordentlichen Krakelschrift:
siewerden mich erschießn istmir egal sie werdnmir in den Nackn schießn was kümmertsmich nieder mit big brother sie schießn immer inden Nackn was solls egal nieder mit big brother...
Er lehnte sich leicht beschämt auf seinem Stuhl zurück und legte den Stift ab. Im nächsten Moment erschrak er gewaltig: Es klopfte an der Tür.
Jetzt schon! So schnell? Er saß mucksmäuschenstill in der vergeblichen Hoffnung, wer immer es war, der da klopfte, möge nach einem einzigen Versuch wieder verschwinden. Aber nein, es hörte nicht auf. Das Schlimmste von allem wäre es jetzt, nicht schnell genug zu antworten. Sein Herz schlug wie eine Trommel, aber sein Gesicht war aus langer Gewohnheit heraus wahrscheinlich ausdruckslos. Er stand auf und beeilte sich, zur Tür zu gehen.
II
Als er gerade den Türknauf berührte, bemerkte Winston, dass er das Tagebuch offen auf dem Tisch liegengelassen hatte. NIEDER MIT BIG BROTHER war quer über die Seite geschrieben, in so großen Buchstaben, dass sie fast über das ganze Zimmer hinweg lesbar waren. Derart leichtsinnig gewesen zu sein, war eine unvorstellbare Dummheit, aber ihm wurde klar, dass er selbst in seiner Panik das cremige Papier nicht hatte verschmieren wollen, indem er das Buch schloss, während die Tinte noch feucht war.
Er holte Luft und öffnete die Tür. Sofort durchströmte ihn eine warme Welle der Erleichterung: Eine farblose, zerstört aussehende Frau mit zerzaustem Haar und einem zerknitterten Gesicht stand draußen.
„Oh, Genosse“, begann sie mit einer traurigen, jammernden Stimme, „ich dachte, ich hätte Sie gehört. Könnten Sie vielleicht rüberkommen und einen Blick auf unsere Küchenspüle werfen? Sie ist verstopft und...“
Es war Frau Parsons („Frau“ war ein von der Partei etwas missbilligtes Wort – die richtige Anrede für alle war „Genossinnen und Genossen“ –, aber bei manchen Frauen fühlte sich „Frau“ doch instinktiv richtiger an), die Ehefrau eines Nachbarn im gleichen Stockwerk. Sie war um die dreißig, sah aber viel älter aus und machte den Eindruck, als hätte sich Staub in ihren Gesichtsfalten festgesetzt. Winston folgte ihr den Flur entlang. Diese dilettantischen Reparaturen waren eine fast tägliche Belästigung: Die Wohnungen im Victory-Gebäude waren alt, aus den 1930ern, und lösten sich langsam in Einzelteile auf: Der Putz fiel in kleinen und großen Stücken von Decken und Wänden ab, die Rohre platzten bei jedem harten Frost, das Dach war undicht bei Schneefall, und die Heizung, wenn sie nicht ohnehin aus wirtschaftlichen Gründen vollständig abgestellt war, lief üblicherweise nur auf halber Leistung. Was die Bewohner des Hauses an Instandhaltungen nicht selbst erledigen konnten, musste von weit entfernten Ausschüssen erst genehmigt werden, und so konnte es durchaus zwei Jahre dauern, bis eine einfache Fensterscheibe endlich repariert wurde.
„Ich frage nur, weil Tom nicht ...“, sagte Frau Parsons zaghaft.
Die Wohnung war größer als die von Winston und auf eine andere Weise abgewrackt: Alles darin machte einen ramponierten, zertrampelten Eindruck, als wäre ein großes, gewalttätiges Tier darüber hinweggerannt. Ein Haufen Sportausrüstung – Hockeyschläger, Boxhandschuhe, ein geplatzter Fußball, ein Paar verschwitzte Shorts, die von innen nach außen gedreht waren – lag über den ganzen Boden verstreut herum, und auf dem Tisch stapelte sich ein Sammelsurium von schmutzigem Geschirr und Schulheften mit Eselsohren. An den Wänden hingen scharlachrote Fahnen der Jugendliga und der Spione und ein Plakat von Big Brother in voller Größe. Allgegenwärtig war der übliche Geruch von gekochtem Kohl, der dem gesamten Gebäude anhaftete, aber von einem noch schärferen nach Schweiß überlagert wurde, der – das wurde schon beim ersten Riechen klar, obwohl schwer zu sagen war, weshalb – von einer gerade nicht anwesenden Person stammte. Im Nebenzimmer versuchte jemand, mit einem Kamm und einem Stück Toilettenpapier, den Takt der Militärmusik zu halten, die immer noch aus dem Teleschirm dröhnte.
„Es sind die Kinder“, sagte Frau Parsons und warf einen halb beunruhigten Blick auf die Tür. „Sie waren heute noch nicht draußen. Und selbstverständlich...“
Sie hatte die Angewohnheit, Sätze in der Mitte abzubrechen.
Die Küchenspüle war fast bis zum Rand voll mit schmutzigem, grünlichem Wasser, das schlimmer denn je nach Kohl stank. Winston kniete sich hin und untersuchte das Abflussrohr. Er hasste es, seine Hände zu benutzen, und er hasste es, sich zu bücken, was bei ihm immer Hustenreiz verursachte.
Frau Parsons schaute hilflos zu. „Wenn Tom zuhause wäre, dann würde er das selbstverständlich sofort in Ordnung bringen“, sagte sie. „Er liebt so etwas. Mit seinen Händen kann er...“
Parsons war Winstons Arbeitskollege im Ministerium der Wahrheit: ein fetter, aber aktiver Mann von lähmender Dummheit, eine einzige Masse an grenzdebiler Begeisterung – einer dieser völlig unreflektierten, devoten Arschkriecher, von denen, noch mehr als von der Gedankenpolizei, die Stabilität der Partei abhing. Mit fünfunddreißig war er gerade unfreiwillig aus der Jugendliga geworfen worden, und vor seinem Eintritt in diese war es ihm gelungen, ein Jahr lang über das gesetzliche Alter hinaus bei den Spionen zu bleiben. Im Ministerium schien er mit einer untergeordneten Beschäftigung, für die Intelligenz nicht erforderlich war, bereits gänzlich ausgelastet, betätigte sich aber außerdem noch als eine führende Figur im Sportausschuss und allen anderen Komitees, die damit beschäftigt waren, Gemeinschaftswanderungen, spontane Demonstrationen, Spendenaktionen und sonstige freiwillige Aktivitäten zu organisieren, und erzählte gern und häufig, während er dabei an seiner Pfeife zog, dass er in den letzten vier Jahren an jedem Abend im Gemeindezentrum gewesen sei. Ein überwältigender Geruch von Schweiß, eine Art unbewusstes Zeugnis der Anstrengung seines Lebens, folgte ihm überallhin und blieb sogar noch lange hinter ihm zurück, nachdem er längst wieder gegangen war.
„Hätten Sie vielleicht einen