Es wird still auf dem Hof, die Tageskutscher sind nach Haus gegangen, und die Nachtkutscher sind zu ihrer Arbeit gefahren. Hackendahl sieht am Haus hoch, es ist hier draußen noch dämmrig, aber im gemeinsamen Schlafzimmer brennt schon Licht, Mutter geht wohl schon ins Bett. Er könnte auch ins Bett gehen, aber er dreht kurz um und geht in den Stall.
Rabause schüttet den Pferden das zweite Futter, er sieht den Chef kurz von der Seite an, räuspert sich, als wollte er etwas sagen, und schweigt.
Ein wenig weiter hin reibt Otto ein Pferd mit dem Strohwisch trocken. Der Kutscher hat es überjagt, um einen Zug zu erreichen und ein Trinkgeld von einer Mark zu verdienen. Hackendahl stellt sich dazu und sieht sich gedankenlos die Reiberei an. »Der Bauch, Otto, vergiß den Bauch nicht!« ruft er schließlich scharf.
Otto wirft einen kurzen, trüben Blick auf den Vater und reibt dann kräftig den Bauch des Pferdes. Das kitzelt den Gaul, er fängt unruhig an zu tänzeln, er schnaubt ...
»Fester!« ruft der Vater. »Du denkst wohl, der Gaul ist ein Mädchen?«
Es ist der alte Unteroffizierston, gewohnheitsmäßig hingesagt, wieder wirft Otto einen Blick auf den Vater. Der Blick kommt aus einem geröteten, verschwollenen Auge, der Vater hat sofort zugeschlagen, als er erfuhr, daß Otto den Erich befreit hatte. Otto ist gar nicht dazu gekommen, den von Tutti eingelernten Satz zu sagen, so rasch und schwer schlug der Vater zu.
Der Vater sieht fast mit Haß auf den reibenden Sohn. Ohne die voreilige Rettungstat dieses Bengels hätte der Vater Erich befreit, und alles wäre in Ordnung gewesen. Einmal tut der Schlappschwanz was aus eigenem Antrieb, ein einziges Mal, und sofort verdirbt er alles.
Der Vater sieht mit Zorn und Haß auf seinen Ältesten. »Heb ihm das Bein!« schreit er. »Siehst du nicht, daß du dem Schinder weh tust?!«
Der Sohn hebt das Bein, legt es sich übers Knie und reibt weiter. »Du machst heute Stallwache«, befiehlt Hackendahl. »Ich will dich nicht in meinem Hause schlafen haben.«
Der Sohn reibt weiter.
»Du sollst Stallwache machen!« schreit der Vater. »Hast du mich nicht verstanden?!«
»Jawohl, Vater«, sagt der Sohn, militärisch laut und deutlich, wie es ihm beigebracht worden ist.
Der Vater sieht den Sohn noch einmal mit blitzendem Auge an, er überlegt, ob er noch irgend etwas sagen soll, ihm den Grad seiner Verachtung begreiflich zu machen. Aber er läßt es. Der ist viel zu weich, er wird immer gehorsam »Jawohl, Vater« sagen, er ist ohne Gegenwehr, wie er auch nicht einmal den Arm hebt, wenn er ins Gesicht geschlagen wird. Ein Schwamm, man kann ihn füllen und ausdrücken, wie man will, er verändert sich nicht.
Hackendahl dreht sich um und geht aus dem Stall. Als er an dem alten Rabause vorbeikommt, der noch mit seiner Futterschwinge läuft, sagt er gnädig: »Wenn du ausgefüttert hast, kannst du nach Haus gehen und dich ausschlafen. Du hast heute frei, Rabause.«
Der Futtermeister sieht ihn von der Seite an, diesmal wagt er es und tut den Mund auf: »Ich habe am Tag geschlafen, Herr Chef«, krächzt er. »Ich brauche in der Nacht keinen Schlaf – der Otto braucht ihn.«
Hackendahl blitzt den Rebellen ärgerlich an, er wünscht keinen Verteidiger seines Sohnes. Der Sohn soll sich selbst verteidigen, wenn ihm Unrecht geschieht. Aber ihm geschieht kein Unrecht.
»Und übrigens habe ich die Kellerschlösser mit aufgeschlagen, Herr Chef«, erklärt Rabause. »Ich fand es auch richtig.«
»So?« fragt Hackendahl langsam. »So ...? Und nun denkst du altes Saufloch, ich hau dir auch in die Fresse wie dem Otto?! Das möchtest du wohl – daß du dich groß und beleidigt fühlen kannst, was? Aber den Gefallen tu ich dir nicht – du bist bloß ein Schlappscheißer, genau wie dein geliebter Otto, Schlappscheißer alle beide! Wie ihr mich ankotzt!«
Fast zitternd vor Zorn sieht er den alten Mann an. »Um zehn bist du aus dem Stall und schläfst zu Hause, verstanden?!« schreit er noch einmal. »Der – der – der –« Er zeigt mit dem Finger nach hinten. »Der – soll wachen!«
Krachend fliegt die Stalltür hinter ihm zu.
19
Zwanzig Schritt her den Hof, zwanzig Schritt hin den Hof – die Nacht sinkt, die brausende Stadt wird ruhiger, aber es will nicht ruhig in ihm werden, immer schlimmer, alles immer schlimmer! Nicht einmal aus eigenem Antrieb hat der Otto den Bruder befreit; das Aas, die Saufgurgel, der Rabause hat es ihm vorgemacht, und er ist bloß wieder mal hinterhergelaufen, wie er sein ganzes Leben lang hinterhergelaufen ist! Und so etwas bleibt einem im Hause, und der Lebendige, der Geliebte läuft im Zorne fort!
Der läuft geldlos in die Welt, ohne Nahrung, ohne Heim; ohne allen Rückhalt ist er jeder Gefahr der Großstadt ausgesetzt – was wird aus ihm?
Hamburger Schiffsjunge, französischer Fremdenlegionär, Selbstmörder im Landwehrkanal – und das wenigste ist, daß er sich seinen Lieblingssohn auf einer Tiergartenbank schlafend vorstellt. Die Schutzleute jagen ihn immer wieder auf, denn es ist verboten, im Freien zu schlafen! Der verlorene Sohn bei den Säuen, wahrhaftig, von ihm ist im Neuen Testament die Rede – aber kein Wort steht dort davon, wie dem Vater in all der langen Trennungszeit zumute war!
Hackendahl macht kehrt, er geht eilig die Treppe hinauf, über den Flur, tritt in das Schlafzimmer. »Wo ist Erich?«
Mutter ist zusammengeschreckt, sie wälzt sich hoch, sie starrt ihn an. »Was hast du denn, Vater? Du erschreckst einen ja!«
»Wo Erich ist, will ich wissen!«
»Aber ich weiß es nicht! Er hat mir doch nicht mal adieu gesagt, ehe er weglief ...«
Sie hält inne. Sie fürchtet, sie hat jetzt ihren Anteil an der Flucht verraten, aber er achtet gar nicht darauf. Er will nur wissen, wo Erich geblieben ist.
»Das ist nicht wahr!« ruft er böse. »Du weißt, wo Erich ist.«
»Bestimmt nicht! Ich mache mir doch auch solche Sorgen! Otto hat noch nach ihm gesucht, aber da war er schon fort ...«
Hackendahl denkt nach. »Es ist doch nicht wahr«, sagt er. »Erich würde so nicht weglaufen. Hast du ihm Geld gegeben?«
»Nichts! Keinen Pfennig!« jammert sie. »Ich habe doch gar kein Geld, das weißt du doch, Vater!«
Jetzt ist er ganz fest überzeugt, daß sie lügt. Sie haben Erich irgendwo versteckt. Erich, er kennt doch Erich! Der wird doch nicht ohne Geld weglaufen!
»Ich werde es schon herausbekommen, du!« sagt er drohend und verläßt ganz plötzlich ihr Zimmer, geht hinüber in das Zimmer der Töchter ...
Dort ist es schon fast dunkel. Eva liegt in ihrem Bett. Sie hat im letzten Tagesschein mit ihren Schmucksachen gespielt, sie hat die Ringe aufprobiert, die Broschen auf das Nachthemd gesteckt, o so schön!
Als sie heute mittag nach Haus gekommen war, die Geschichte von dem bestohlenen Versteck in der Hängelampe erfuhr, das sie für ihr undurchdringliches Geheimnis gehalten hatte – und nun wußten alle davon, oh, sie wäre fast geplatzt vor Wut! Sie wäre am liebsten zur Polizei gegangen, sie hätte ihn angezeigt, den Bruder, diesen gemeinen Verbrecher!
Aber da war dieser Schmuck in der Tasche des Kleiderrocks! Nur jetzt nichts mit der Polizei zu tun haben! Sie hat mit zitterndem Herzen die Schilderung des Juwelendiebstahls in der Zeitung gelesen. Man ist natürlich davon überzeugt, daß der junge Mann und das junge Mädchen zusammengehörten, daß die beiden raffiniert zusammenarbeiteten. Man hat auch schon die Markttasche gefunden ...
Nein, nur Stille