Der Schimmel machte einen Satz in der Schere, dann schien die Droschke einen Augenblick stillzustehen, und nun raste der Gaul los ...
»Sie sollen nicht ...«, klang von hinten die Stimme des Geheimrates.
Das Automobil hielt sich genau neben dem Pferde, knatternd, hupend und stinkend. Obwohl Hackendahl immer nur starr geradeaus sah, immer über die Ohren des Pferdes weg, die Zügel fest in der Hand, nach allen Hindernissen ausspähend – trotzdem meinte Hackendahl das höhnische Gesicht des Chauffeurs zu sehen, dieses Verbrechers, der ihn »Genosse« angeredet hatte und der ihn ausstopfen lassen wollte! Kein Zeichen von Schwäche sollte dieser Bursche sehen – weiter, und dem Schimmel würde es schon leid werden!
Schon war die Siegessäule glücklich umrundet, da zeigte sich eine neue Gefahr in der Gestalt eines pickelhelmigen Schutzmannes. Die wilde Jagd, das galoppierende Pferd hatten seinen Unwillen erregt, in der einen Hand ein dickes Notizbuch, die andere hoch erhoben, trat er auf die Fahrbahn, Einhalt gebietend solch verkehrswidrigem Tun.
Er hatte gut gebieten, Hackendahl gehorchte jeder Obrigkeit, der Schimmel gehorchte nur dem Instinkt der Pferde, er raste weiter.
Der Schutzmann machte einen ganz unmilitärischen Schrecksatz zurück – und alles war vorüber. Weiterrasend wußte Hackendahl, er wurde aufgeschrieben, er bekam eine Strafe – er war vorbestraft!
Mit einem verzweifelten Ruck riß er den Kopf des Pferdes nach rechts in die stille Hindersinstraße, das überlistete Automobil schoß geradeaus weiter, der Schimmel machte noch zehn, fünfzehn Galoppsprünge, fiel in Trab, in Schritt ...
Hackendahl merkte, daß ihn der Geheimrat von hinten am Arm riß. »Sie sollen anhalten, Kerl! Verstehen Sie nicht?!« schrie der Alte, kirschrot vor Wut.
Hackendahl hielt an.
»Verzeihen Sie, Herr Geheimrat«, rief er aus. »Der Schimmel ist mir durchgegangen. Das Automobil hat ihn wild gemacht, der Chauffeur hat das mit Absicht getan!«
»Wettraserei!« sagte der alte Herr noch immer zitternd. »Alte Leute, und Wettfahrten!« Er stieg aus, mit zitternden Knien. »Wir sind das letzte Mal zusammen gefahren, Hackendahl. Schicken Sie mir Ihre Rechnung. Schämen sollten Sie sich!«
»Aber ich kann nicht dafür! Nicht das frömmste Pferd hielte das aus!«
Ein Hupenschrei erscholl. Von vorn kam das Automobil, das triumphierende Scheusal aus Lack und Eisen, das den Häuserblock umrundet hatte. Der abgekämpfte Schimmel stand mit hängendem Kopf, er rührte sich nicht, selbst als das Auto neben ihm hielt.
»Sie sagen, das Pferd!« rief der Geheimrat. »Aber das Pferd steht doch! Nein, Sie haben um die Wette rasen wollen, Hackendahl, nur Sie ...«
Hackendahl sagte nichts mehr, mit trübem Blick, mit gesenktem Kopf sah er den Geheimrat zu dem lächelnden Sohn in das Auto steigen. Schwer war zu tragen, was alles Gott einem rechtlichen Manne auferlegte!
14
Eine halbe Stunde lang hatte Frau Hackendahl mit Stemmeisen, Hammer und Zange an dem Vorlegeschloß zur Kellertür gearbeitet, sie hatte die Krampe krumm geschlagen, den Bügel verbogen, sich die Finger verletzt – aber das Schloß hatte sie nicht aufbekommen.
Nun saß sie erschöpft und verzweifelt auf einer Treppenstufe; in der Ferne, durch zwei Türen hindurch, meinte sie, den gefangenen Sohn rufen zu hören. Aber er rief umsonst, sie konnte nicht zu ihm. Wenn sie sich vorstellte, daß sie um ein nutzlos verdorbenes Schloß den schwersten Sturm bei ihrem Manne heraufbeschworen hatte, so erfaßte sie eine immer stärkere Verzweiflung.
So wie hier war es ihr in ihrem ganzen Leben ergangen: keine schlechten Vorsätze, nicht einmal weniger Mut als jeder andere, aber es gelang ihr nichts. Ihre Ehe war ihr nicht gelungen, ihre Kinder waren nicht so geworden, wie sie erhofft hatte, sie hatte das Schloß nicht aufbekommen.
Sie warf einen Blick auf dieses ekelhafte Eisenschloß. Jawohl, man hätte einen Schlosser holen können, aber man zeigte einem Fremden nicht die Schmach im eigenen Hause. Sie hätte auf den Hof gehen und an der Kellerluke horchen können – aber an allen Fenstern konnten Nachbarn sitzen und lachen, es ging wiederum nicht. Das Leben war so zugebaut, man konnte dem eigenen Mann nicht sagen, was einem zum Überdruß an ihm mißfiel. Und wenn man es ihm sagte, so hörte er nicht, und wenn er hörte, so änderte er sich nicht. Das Leben war so ausweglos, immer dasselbe, es war nicht zu ertragen, keinesfalls, und man ertrug es doch!
Man wurde dick und alt dabei, das Essen schmeckte meistens – und dann war da das Blödeste von allem, diese kleine unsinnige Hoffnung im Herzen, es könnte doch noch einmal anders werden. In diesem alten, verbrauchten, überquellenden Körper saß noch genau dieselbe Hoffnung wie in dem jungen Mädchen. Nie, nicht ein einziges, klimperkleines Mal hatte sie sich erfüllt, aber sie war da, hartnäckiger als je, sie flüsterte: Wenn du das Schloß aufbekommst und Erich frei ist, wird vielleicht doch noch alles anders!
Idiotisch – aber es war so. Es war nur dies alberne Schloß zwischen ihr und einem anderen, besseren Leben, wie es immer nur eine ganze Kleinigkeit gewesen war, die sie nicht zum Genuß ihres Daseins hatte kommen lassen. Das war das Allerschlimmste: Es waren stets nur Kleinigkeiten gewesen, niemals eine große Tragödie.
Auch ihrem Erich war kein anderes Los gefallen, über ein paar Mark sollte er zu einem halben Verbrecher und heimatlos werden, um eine Kleinigkeit. Das Leben war so erschreckend eng, es geschah rein gar nichts, wenn ein Mädel in der Nachbarschaft ein Kind kriegte, so sprach man viele Jahre davon. Kleine Leute, kleine Schicksale – sie hatte einen ungeheuer aufgeschwemmten Leib, aber der Kern in ihr, das, was sie selbst war, das war noch genau so groß wie damals, als sie eine ganz junge Auguste gewesen war, der war nicht mit gewachsen.
Sie sitzt da auf ihrer Kellertreppe, sie sieht das Schloß an, und dann schaut sie in ihren Schoß. Sie weiß, sie bekommt das Schloß nicht auf, und sie weiß, der Erich wird vielleicht darum unglücklich, vielleicht hängt er sich sogar darum auf, aber sie wird doch nicht den Otto rufen oder den Schlosser. Sie kann nicht aus sich heraus.
Sie sitzt da und grübelt. Sie hat die primitive Phantasie einer Siebzehnjährigen. Sie versucht, sich den Keller vorzustellen, ob da Haken sind und Stricke, ob er auch hoch genug ist dafür ... Aber dann fällt ihr ein, sie hat mal in der »Mottenpost« gelesen, einer hat sich an der Türklinke aufgehängt. Und nun fällt ihr ein, daß Erhängte eine blaurote, geschwollene Zunge aus dem Munde strecken und daß sie in die Hosen machen sollen ...
Da überwältigt sie der Schrecken, sie springt auf und fängt an zu schreien und schlägt mit dem Hammer gegen die Kellertür, sie trommelt und brüllt: »Tu es nicht, Erich! Tu es nicht, deiner Mutter zuliebe!«
Es ist nichts Bewußtes, was sie tut, sie hört nicht einmal, was sie schreit. Aber das gemarterte Herz in ihr quält sich, und sie tanzt herum, tanzt ihren grotesken Schmerzenstanz ... Und als Otto und Rabause erschrocken die Kellertreppe hinabstürzen und angstvoll fragen: »Was ist denn los?«, da schreit sie nur und deutet: »Er hängt sich auf! Jetzt hängt er sich auf!«
Oh, dieses Leben ist eine komplizierte Sache: Wäre Frau Auguste Hackendahl ein wenig bewußter, wacher, klüger, so würde man sagen, sie hat dieses ganze Theater bloß darum aufgeführt, damit die Männer für sie die Kellertür aufbrechen, damit sie doch ihr Ziel erreicht, nicht an der Kleinigkeit eines Schlosses scheitert. Denn ihr Geschrei, ihr Weinen, ihre Aufregung, ihre panische Angst verhindern alle Fragen, wortlos arbeiten die Männer an Schloß und Tür, und sie steht stöhnend daneben und bettelt: »Macht bloß schnell! Jetzt tut er es!«
Aber Frau Auguste Hackendahl ist nicht so raffiniert, sich so etwas auszudenken und durchzuführen. Sie fühlt wirklichen Schmerz, sie hat wirkliche Angst – und sie selbst ist die Überraschteste, als sie, nach dem Aufbrechen der zweiten Tür, den Sohn Erich ruhig auf seiner Kiste sitzen und an seinem Brotkanten kauen sieht.
»Ich