»Dann soll er sich an die Kultusgemeinde wenden oder an die israelitische Allianz und nicht am Abend bei Kaffeehäusern herumstehen!«
»Regen Sie sich nicht auf, Herr Schiffmann, Sie haben ihm doch nichts gegeben.«
»Mein lieber Doktor,« sagte Schiffmann bestimmt, »ich bin Mitglied des Vereines gegen Verarmung und Bettelei. Jahresbeitrag ein Gulden.« …
2. Kapitel.
Die Familie Löffler wohnte im zweiten Stock eines großen Zinshauses in der Gonzagagasse. Im Erdgeschosse befand sich die Tuchniederlage der Firma »Moriz Löffler und Komp.«
Als Friedrich und Schiffmann in das Vorzimmer traten, bemerkten sie an der Menge der schon dahängenden Winterröcke und Mäntel, daß die Gesellschaft heute zahlreicher sein mußte als gewöhnlich.
»Ein ganzes Kleidergeschäft,« meinte Schiffmann.
Im Salon waren einige Leute, die Friedrich schon kannte. Fremd war ihm aber der kahlköpfige Herr, der neben Ernestinen am Klavier stand und ihr ganz vertraulich zulächelte.
Das junge Mädchen streckte dem Ankömmling liebenswürdig die Hand entgegen: »Herr Doktor Löwenberg, lassen Sie sich vorstellen. Das ist Herr Leopold Weinberger.«
»Mitchef der Firma Samuel Weinberger und Söhne in Brünn,« ergänzte Papa Löffler nicht ohne Feierlichkeit und Wohlwollen.
Die beiden Herren reichten einander erfreut die Hände, und Friedrich nahm bei dieser Gelegenheit wahr, daß Herr Weinberger, der Mitchef der Brünner Firma, beträchtlich schielte und eine sehr feuchte Handfläche hatte. Das mißfiel Friedrich nicht, weil es den ersten, blitzartigen Gedanken verscheuchte, von dem er bei seinem Eintritte befallen worden war. Ernestine mit einem solchen Menschen — das war einfach unmöglich. Wie sie jetzt dastand, schlank, anmutig, das holde Haupt lieblich geneigt, entzückte sie seine Augen. Er mußte sich aber ein wenig zurückziehen, denn andere Gäste kamen und wurden begrüßt. Nur Herr Leopold Weinberger aus Brünn behauptete sich einigermaßen zudringlich an Ernestinens Seite.
Friedrich erkundigte sich bei Schiffmann.
»Dieser Herr Weinberger ist wohl ein alter Bekannter des Hauses?«
»Nein,« sagte Schiffmann, »sie kennen ihn erst seit vierzehn Tagen, aber es ist eine feine Tuchfirma.«
»Was ist fein, Herr Schiffmann, das Tuch oder die Firma?« fragte Friedrich belustigt und getröstet. Denn ein Mensch, den man erst seit vierzehn Tagen kannte, war doch sicherlich kein Bräutigam.
»Beides,« erwiderte Schiffmann. »Samuel Weinberger und Söhne kriegen so viel Geld wie sie wollen - für vier Percent. Hochprima … Überhaupt geht es heute hier nobel zu. Sehen Sie: der Magere dort mit den Glotzaugen, das ist Schlesinger, der Prokurist von Baron Goldstein. Er ist ein zuwiderer Mensch, aber sehr beliebt.«
»Warum?«
»Wie heißt, warum? Weil er der Prokurist von Baron Goldstein ist … Kennen Sie den mit dem grauen Backenbart? Auch nicht? Ja, von wo kommen Sie denn? Das ist der Großspekulant Laschner, einer der bedeutendsten Börsianer. Der spielt Ihnen mit ein paar tausend Effekten wie gar nichts. Jetzt ist er gerade sehr reich. Mir gesagt! Ob er nächstes Jahr noch etwas haben wird, weiß ich nicht. Heute hat seine Gemahlin die größten Brillantenboutons… die anderen sind ihr auch alle darauf neidig.«
Frau Laschner saß in einer Ecke des Salons mit mehreren ebenfalls stark geputzten Damen, und sie sprachen leidenschaftlich von Hüten. Die übrigen Gruppen waren noch in der kühlen Stimmung vor dem Nachtmahl. Auch schienen einige von der bevorstehenden Überraschung unterrichtet zu sein, die Schiffmann im Kaffeehaus angedeutet hatte. Sie machten diskrete Mienen und flüsterten miteinander. Friedrich fühlte sich unbehaglich, ohne recht zu wissen warum. In dieser Gesellschaft spielte er nächst Schiffmann die unbedeutendste Rolle. Sonst hatte er das nie bemerkt, weil Ernestine mit ihm zu bleiben pflegte, wenn er kam. Aber heute wandte sie keinen Blick und kein Wort an ihn. Herr Weinberger aus Brünn mußte ein sehr anregender Plauderer sein. Noch etwas empfand Friedrich als Demütigung des Schicksals. Er und Schiffmann waren die einzigen, die nicht im Frack oder Smoking erschienen waren, sondern im Salonrock. Dadurch waren sie auch äußerlich als die Parias des Abends gekennzeichnet. Am liebsten wäre er weggegangen, aber dazu fand er nicht den Mut.
Der große Salon war schon überfüllt. Man schien aber noch jemanden zu erwarten. Friedrich wandte sich mit einer Frage an seinen Elendsgenossen. Schiffmann wußte es auch wirklich, denn er hatte soeben eine Bemerkung der Hausfrau erlauscht. »Man wartet nur noch auf Grün und Blau.« »Wer ist das?« fragte Friedrich.
»Was? Sie kennen Grün und Blau nicht? Die zwei geistreichsten Menschen von Wien? Es gibt doch keine Gesellschaft, keine Hochzeit, keinen Polterabend, oder was immer, ohne Grün und Blau. Manche sagen. Grün ist der Geistreichere; manche sagen, Blau. Grün ist mehr auf Wortspiele eingerichtet, Blau macht sich mehr über die Leute lustig. Blau hat darum auch schon mehr Pätsch’ bekommen, aber das geniert ihn nicht. Er hat das richtige Gesicht dafür. Seine Wangen werden nicht rot, wenn man sie ohrfeigt … In den besseren jüdischen Kreisen sind die zwei Herren sehr beliebt. Nur kann einer den anderen nicht ausstehen — natürlich, sie sind ja Konkurrenten.«
Eine kleine Bewegung im Salon. Herr Grün war eingetreten, ein langer hagerer Mensch mit rötlichem Bart und auffallend weit vom Kopf abstehenden Ohren, die Herr Blau die »uneingesäumten Ohren« nannte, weil ihr oberer Rand nicht der Muschel zu gefaltet war, sondern flach auslag.
Ernestinens Mutter ging dem berühmten Witzbold mit einem liebenswürdigen Vorwurf entgegen: »Warum kommen Sie erst jetzt, Herr Grün?«
»Ich hab’ nicht später kommen können,« antwortete er humoristisch. Die es hörten, lächelten dankbar. Doch über die Züge des Humoristen flog ein Schatten: Blau war erschienen.
Herr Blau, ein mittelgroßer Mann von etwa dreißig Jahren, hatte ein glattrasiertes Gesicht, und auf der stark gebogenen Nase saß ihm ein Kneifer.
»Ich war im Wiedener Theater,« sagte er, »bei der Premiere. Nach dem ersten Akt bin ich weggegangen.«
Die Mitteilung erregte Interesse. Damen und Herren scharten sich um Blau, der weiter berichtete: »Der erste Akt ist zum allgemeinen Erstaunen nicht durchgefallen.«
Frau Laschner rief ihrem Gatten herrisch zu: »Moriz, ich will morgen dazu gehen.«
Blau fuhr fort: »Die Freunde der Librettisten haben sich ausgezeichnet unterhalten.«
»So gut ist die Operette?« fragte Schlesinger, der Prokurist des Baron Goldstein.
»Nein - so schlecht!« erklärte Blau. »Die Freunde der Verfasser unterhalten sich doch nur, wenn das Stück schlecht ist.«
Man ging zu Tisch. Der große Speisesaal war noch zu klein für die heutige Gesellschaft. Man saß dicht gedrängt. Ernestine neben Herrn Weinberger. Friedrich und Schiffmann hatten am untersten Ende der Tafel Platz nehmen müssen.
Anfänglich gab es mehr Tellergeklapper und Klirren von Eßzeug als Gespräche. Herr Blau rief seinem Konkurrenten über den Tisch zu:
»Grün — essen Sie nicht so laut! Man hört seinen eigenen Fisch nicht.«
»Sie sollten keinen Fisch essen, sondern Neidhammelkeule.«
Die Anhänger des Herrn Grün lachten über diesen Witz. Die Anhänger des Herrn Blau fanden ihn matt.
Aber die Aufmerksamkeit der Tafelrunde wurde von den beiden Witzbolden abgelenkt, als ein älterer Herr, der neben Frau Löffler saß, mit etwas lauterer Stimme sagte:
»Bei uns in Mähren wird die Lage auch schlecht. In den kleineren Landstädten sind die Leute wirklich in Gefahr. Sind die Deutschen schlecht aufgelegt, schlagen sie den Juden die Fenster ein. Sind die Tschechen schief gewickelt, brechen sie