Alle diese Frauen, denen der Arzt geholfen hat, sind ohne Verschlüsselung mit Namen und Vornamen in der Anklageschrift säuberlich aufgelistet. Der Prozess dürfte sie alle noch einmal an den Pranger bringen. Auch wenn in einigen Verfahrensabschnitten Neugierige nicht in den Zuschauerraum dürfen, müssen die Frauen ihre Anonymität preisgeben und abermals Details aus ihrer Intimsphäre offenlegen - eine moderne Spielart der Inquisition.
Die Anklageschrift liest sich, als hätten ihre Verfasser sich vor lauter Verfolgungsfreude die Hände gerieben. Aufgeführt werden auch Vorwürfe, die dem Gynäkologen gar nicht vorgehalten werden dürfen: "Der Angeschuldigte hat bereits in verjährter Zeit eine Vielzahl von illegalen Schwangerschaftsabbrüchen gegen Entgelt vorgenommen."
Sonnenklar jedenfalls für die Ankläger: Der Memminger Frauenarzt hat gewerbsmäßig gehandelt, damit sei "jeweils ein besonders schwerer Fall gegeben", der Strafrahmen reicht bis zu 15 Jahren Freiheitsentzug. Damit nicht genug: "Die Verhängung eines Berufsverbots wird erforderlich sein."
Ausgelöst wurde die Strafverfolgungslawine durch eine anonyme Anzeige bei der Steuerfahndung in Kempten. Der oder die Unbekannte hatte - womöglich unter Bruch des Steuergeheimnisses - mitgeteilt, Theissen habe Einkünfte aus Schwangerschaftsabbrüchen bei seiner Einkommensteuererklärung nicht angegeben. Im Herbst 1986 nahm das Finanzamt Memmingen seine Ermittlungen auf.
Am 24. September erließ das Amtsgericht einen Durchsuchungsbeschluss, tags darauf wurden Wohnung und Praxis des Arztes durchwühlt und Karteikarten von 1390 Patientinnen aus der Zeit seit Anfang 1977 beschlagnahmt.
Drei Wochen lang fingerte Oberamtsrat Knobelspies von der Steuerfahndung sämtliche ärztlichen Aufzeichnungen durch. Dann schrieb Knobelspies an den Staatsanwalt und bat, das Verfahren "hinsichtlich des Verdachts illegaler Schwangerschaftsabbrüche zu übernehmen".
Bei Staatsanwalt Herbert Krause, kam Knobelspies an die richtige Adresse. Der Ankläger beantragte, die beim Finanzamt zwischengelagerte Patientenkartei für sein Strafverfahren zu beschlagnahmen. Ein Memminger Amtsrichter erließ prompt den erwünschten Beschluss - offenbar ohne rechtliche Skrupel.
Von diesem Zeitpunkt an liefen die Ermittlungen nicht mehr nur gegen den Frauenarzt, sondern auch gegen Hunderte seiner Patientinnen. Im Mai und September 1987 wurden die Theissen-Praxisräume abermals durchsucht und Karteikarten über 201 weitere Patientinnen beschlagnahmt.
Eingeleitet wurden schließlich Strafverfahren gegen 279 Patientinnen und 78 ihrer Ehemänner, Freunde oder Bekannten - wegen Verdachts der illegalen Abtreibung oder hierzu geleisteter Beihilfe. Unbehelligt blieben nur Partner, die ihre Gefährtinnen im Stich gelassen und oft gerade damit, so die Rechtsanwältin Brigitte Hörster, "die Notlagensituation der Frauen verschärft" hatten.
Bis zur Prozesseröffnung wurden gegen 174 Frauen Geldstrafen zwischen 900 und 3200 Mark verhängt - per Strafbefehl. Das ersparte ihnen zwar in eigener Sache fürs erste die Peinlichkeit einer öffentlichen Hauptverhandlung vor Gericht, doch schon 129 Frauen sind auf diese Weise zu Vorbestraften geworden. 45 Verurteilte haben gegen ihren Strafbefehl Einspruch erhoben, die meisten davon ohne Erfolg, zwei Frauen kamen mit einem Freispruch davon. Die meisten Frauen hatten den gegen sie ergangenen Strafbefehl rechtskräftig werden lassen - nicht, weil sie die Verurteilung als Recht akzeptierten, sondern weil sie jedes weitere öffentliche Aufsehen und jeden erneuten Einbruch in ihre Privatsphäre mehr fürchteten als eine Verurteilung und ihre Eintragung im Strafregister.
Die Memminger Justizpraxis, konstatierte die SPD-Landtagsabgeordnete Hedda Jungfer, "ist beispiellos in der Geschichte der Kriminalisierung von Frauen seit der Reform des Paragraphen 218". In der Tat: Anderswo stellen Staatsanwälte derlei Ermittlungsverfahren - falls es überhaupt dazu kommt - in der Regel wegen geringer Schuld und mangelndes öffentliches Interesse ein.
Viele Juristen sehen in der Situation unfreiwillig schwanger gewordener Frauen geradezu den Musterfall für die Anwendung jenes Paragraphen 153 der Strafprozessordnung, der die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens wegen geringfügigen Verschuldens ermöglicht.
So gab es in Rheinland-Pfalz 1985 überhaupt keine Verfahren wegen Abtreibung, 1986 eins und 1987 zwei, von denen eines eingestellt wurde. Zurzeit ist in Koblenz ein einschlägiges Ermittlungsverfahren gegen einen Arzt anhängig, der 1440 Abtreibungen vorgenommen haben soll. Gegen keine der betroffenen Frauen wird auch nur ermittelt.
In Hessen liefen 1985 sechs Ermittlungsverfahren, 1986 vier und 1987 fünf - in der Mehrzahl gegen Ärzte. Alle Verfahren wurden eingestellt. In Schleswig-Holstein gab es in den letzten drei Jahren nur zwei Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf illegalen Schwangerschaftsabbruch, im Saarland fünf. Alle endeten mit Einstellung.
In West-Berlin werden solche Ermittlungsverfahren amtlich gar nicht erst gezählt. Verurteilungen in den letzten drei Jahren: null.
In Nordrhein-Westfalen kamen 1985 bis 1987 insgesamt 14 einschlägige Verfahren bis vor Gericht. Acht wurden eingestellt, drei endeten mit Freispruch, zwei mit einer Geldstrafe und eines mit einem Zuchtmittel nach dem Jugendgerichtsgesetz. Baden-Württemberg führt keine speziellen Statistiken über Abtreibungsverfahren - pro Jahr gibt es dort etwa eine Verurteilung.
Ganz anders war die Gangart in Memmingen. Was immer dort gegen die Frauen und ihren Arzt an Ermittlungsergebnissen zusammengetragen und den Beschuldigten vor Gericht jetzt vorgehalten wurde, geht auf eine einzige Quelle zurück – die Patientenkartei des Doktor Theissen. Auch alle späteren Ergebnisse aus den Vernehmungen der Frauen, der Praxishilfen und des angeklagten Gynäkologen beruhen letztlich auf Vorhalten, die ihrerseits aus den Notizen in der Arztkartei abgeleitet sind.
Dieser Umstand könnte bewirken, dass alle Strafurteile im Umfeld des Theissen-Falles hinfällig werden, weil die Art und Weise der Beweismaterialbeschaffung womöglich unzulässig war.
"Es ging hier nicht um die Durchsuchung einer Tankstelle oder eines Gemüseladens", argumentiert der Frankfurter Strafverteidiger und Theissen-Anwalt Sebastian Cobler. War die Beschaffung der Beweismittel unzulässig, weil sie gegen verfassungsrechtlich geschützte Grundrechte von Beteiligten verstieß, dürfen die Beweise nicht verwertet werden.
Die Patientenkartei jedes Arztes und insbesondere die eines Gynäkologen enthält sensible Daten aus dem Persönlichkeits- und Intimbereich von Patienten. Was dem Arzt von seinen Patienten anvertraut wird oder was er aufgrund seiner ärztlichen Tätigkeit erfährt, ist grundsätzlich gegenüber Dritten geschützt, weil anders ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient - Grundlage jeder Beratung und Behandlung - nicht herstellbar ist.
Eingriffe von Staatsorganen in diesen Schutzbereich sind nur dann rechtmäßig, wenn die Schwere der angenommenen Straftat und der Bruch des Arztgeheimnisses in einem vertretbaren Verhältnis stehen. Keineswegs müssen oder dürfen alle Straftaten um jeden Preis aufgeklärt werden. Im Gegenteil: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der einer Strafverfolgung im Einzelfall durchaus Grenzen setzen kann, hat seinerseits Verfassungsrang.
Im Theissen-Fall ging es zunächst nur um den - anonym geäußerten - Verdacht der Steuerhinterziehung, mithin keineswegs um ein Kapitalverbrechen. Er richtete sich nur gegen den Arzt, nicht aber gegen dessen Patientinnen.
Diesem Verdacht hätte die Justiz pflichtgemäß nachgehen können und müssen, ohne dabei in eine Patientenkartei mit sensiblen Daten Dritter einzubrechen. Eine steuerliche Betriebsprüfung hätte womöglich schon ausgereicht oder, wie Verteidiger Cobler meint, die Kontaktaufnahme des Finanzamts mit dem Steuerberater des Arztes, um ihm zunächst eine - strafbefreiende - Selbstanzeige wegen Steuerverkürzung zu ermöglichen.
Den Antrag der Theissen-Verteidiger, das Verfahren einzustellen, weil die Beschlagnahme der Patientenkartei verfassungswidrig und die Beweismittel deshalb unverwertbar seien, hat die Memminger Strafkammer schon am zweiten Verhandlungstag zurückgewiesen. Die bayrischen Richter der ersten Instanz wollen sich das so spektakulär gestartete Verfahren nicht mehr aus den Händen winden lassen.
Ob ihr Urteil aber auch in der Revisionsinstanz noch Bestand haben wird, scheint zweifelhaft. In einem vergleichbaren Fall hat das Bundesverfassungsgericht 1977 die Beschlagnahme der Klientenkartei