Gefangen auf der Insel vor dem Wind. Maxi Hill. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Maxi Hill
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754180037
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Licht der Morgensonne die zarten Schatten der Gardine an die Wand. Es hat sie nicht gedrängt, das Bett zu verlassen, und Ben muss erst gegen elf Uhr zur UNI. Jetzt aber zieht sie eine magische Kraft hinauf. Sie schaut nach Ben. Der liegt ruhig atmend neben ihr, ein Bild, das sie bisweilen merkwürdig milde stimmt. In den früheren Jahren hätte sie ihn wachgeküsst. In den früheren Jahren hätten sie sich noch geliebt. Ben liebte es mehr als sie selbst, wenn der Tag damit anfing, dass er ihren Körper besaß, ihre Liebe, die sie ihm schenkte. Sie wendet sich ab von ihren Gedanken und von Ben. Früher ist nicht heute.

      Auf leisen Sohlen schleicht sie sich aus dem Zimmer. Ihr Blick aus dem Wohnzimmerfenster bringt ihr das Gefühl von überwältigender Sehnsucht nach Sommer, nach Meer und nach nackten Füßen. Am Himmel ist keine einzige Wolke zu sehen. Nur am Horizont zieht ein schwacher Streifen dunstiger Bläue. Ida mag es lieber, wenn der Himmel mit weißen Wolken übersät ist, aber nach dem verregneten Vortag fühlt sich die gewaltige, wie Kobaltglas schimmernde Kuppel einfach nach Urlaub an, nach Freiheit von allen Zwängen, nach jener tiefen Zufriedenheit, die sie aus unerklärlichen Gründen im Urlaub noch immer gemeinsam empfinden, irgendwo auf Usedom oder Rügen.

      Gleich heute wird sie sich dranmachen, ein schönes Apartment zu buchen.

      Sie frühstücken gemeinsam, hören dabei die Nachrichten und reden über unbedeutende Dinge. Der Sicherheitsdient im Haus. Der dauernd kränkelnde Aufzug. Der Einzug der vielen Studenten und der Ausländer in den begehrten Wohnkomplex mitten in der Stadt. Nur hin und wieder huscht ihr Blick zu Ben. Sie findet, er ist ein Anderer, seit die Kinder aus dem Haus sind. Immerhin trägt er alles mit, was sie tut, wenn auch ohne die gewünschte Begeisterung.

      Er hat davon auch seinen Nutzen. Sie muss schließlich nicht mehr zwingend das Haus verlassen, kann ihre Zeit auf ihn einstellen, was sie zumeist auch bewerkstelligt. Leider hat Ben dafür kein Gespür, glaubt womöglich, ihre Planung für den Tag sehe ohnehin alles genauso vor. Sie trägt es ihrerseits mit Fassung, was die Melancholie, die sie deswegen bisweilen empfindet, nicht mindert.

      Als Ben aufbricht, weiß sie nicht einmal, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein soll. Die Rituale in ihrer Ehe sind seit Jahren dieselben. Warum sollte sie also enttäuscht sein.

      Weil es nicht stimmt, geht ihr auf. Früher, als sie noch täglich zur Arbeit ging, kam ihr Ben stets wie ihr Beschützer vor, wie ihr Fels in der Brandung. Erst nach und nach änderte sich seine Position zu ihr. Genau genommen, seit sie Bücher schreibt. Nicht sofort. Es änderte sich parallel zu ihrem Erfolg, zu ihrer Anerkennung durch die Öffentlichkeit. Irgendetwas gefällt ihm daran nicht, aber er offenbart sich ihr nie. Manchmal sieht es so aus, als sei er noch immer eifersüchtig, wegen ein paar Komplimenten, die auch mal von Männern kommen. Dann wieder hat sie das Gefühl, er misst sich mit ihr und glaubt, sein Status sei dadurch unterbewertet.

      Das Telefon läutet. Auf der Anzeige eine bekannte Nummer. Noch ehe sie abhebt, glaubt sie, Jens Wegener, ihr Bankberater, habe gestern etwas vergessen.

      Eine Frauenstimme redet überschwänglich, wie froh sie sei, dass es endlich mal jemanden treffe, dem sie es wirklich gönnt. Es ist Vera Böllmann, die PR-Chefin der Bank.

      Wie sich herausstellt, hat die bankeigene Sparlotterie den diesjährigen Hauptgewinn ermittelt, und das sind ausgerechnet sie, Ida und Dr. Benjamin Winter.

      »Wohin soll es gehen?«, fragt Ida, noch immer ungläubig.

      »Auf eine einsame Insel in Dänemark…«

      »In Dänemark!« Es war etwas zu schrill, das merkt sie sofort, aber ihr Erstaunen ist echt. In Anbetracht der bisherigen Minibeträge, die bisweilen ausgeschüttet werden, hätte man, wenn man schon mal das Glück hat, mit einem Kurzurlaub in der näheren Umgebung rechnen können. Niemals aber mit dem Ausland.

      »Wir haben uns erkundigt und wissen, dass es unbedingt etwas für Sie ist. Deshalb freue ich mich aufrichtig für Sie.«

      Daher also. Erst gestern hatten sie mit Jens Wegener dieses Thema angeschnitten, und ausgerechnet heute… ! Irgendetwas muss faul sein an der Sache. Hatte bisher ein anderer Sieger abgelehnt?

      »Erst einmal bin ich natürlich überrascht«, sagt sie ehrlich, »aber ich werden nachher mit meinem Mann reden und rufe zeitnah zurück. «

      Verstehen will Vera Böllmann Idas Zögern nicht. Das nötigt ihr eine weitere Erklärung ab: Die einzigen Bewohner der Insel würden zu dieser Zeit nicht zuhause sein. Sie hätten also völlige Freiheiten — ganz ohne Verpflichtung.

      Genau so sagt es Ida am späten Nachmittag auch Ben. Wie sie erstaunt sie am Morgen war, ist es Ben momentan. Auch er sieht einen Zusammenhang zu Idas Bemerkung bei Jens Wegener, aber anfreunden kann er sich mit dem Gedanken nicht sofort.

      »Wer will schon in die Einöde«, sagt er. »Ich wette, die suchen schon lange nach einem Dummen, dem sie den Gewinn andrehen können. Vielleicht war es ein allzu günstiges Angebot von dort. Wie sagtest du, heißt die?«

      »Petersland, oder so. «

      »Na, dann wollen wir doch mal sehen…«

      Ben setzt sich an den Computer und Ida hört fast eine halbe Stunde nichts von ihm. Als er kommt, trägt er einen verschwommenen Ausdruck mit sich, auf dem ein winziges Pünktchen mit einem Stift eingekreist ist. Vermutlich musste er den Kartenausschnitt bis zu dieser Unkenntlichkeit vergrößern, aber zu erkennen ist die Insel deswegen nicht. Sei Finger tippt auf den Kringel.

      »Genau kann ich es nicht sagen, aber das hier könnte sie sein — Pedersand.«

      Nach dem Abendbrot reden sie über die Sache mit dem Urlaub. Begeistert sind sie beide nicht, aber Ida hatte zumindest etwas länger Zeit, darüber nachzudenken und war zu dem Schluss gekommen: Ein Abenteuer in der Abgeschiedenheit würde ihrer Ehe neue Impulse verleihen. Alleine dafür lohne es sich, in die Einsamkeit zu ziehen.

      Erst nach vielen Worten hin und her und nach reiflicher Bedenkzeit willigt Ben ein.

      Viel später — als sie schon auf Pedersand sind — wird ihr klar, warum ihr Mann letztlich eingewilligt hat. Er trägt ein ganzes Bündel Akten mit sich. Hier kann er in Ruhe diverse wissenschaftliche Arbeiten angehen.

      AUF NACH PEDERSAND

      Allein die Fahrt ab dem Festland, wo sie ihr Auto zurücklassen mussten, ist abenteuerlich. Eine Fähre bringt sie bis zu einem Anleger auf einer Insel im Nirgendwo. Ein überkluger Passagier erklärt mit ausladenenden Gesten, wo Manö liege, wo Römö und wo Fanö, was immer die Namen bedeuteten und wie immer man sie aussprach. Ida weiß beides nicht. Allein am Gehabe des Mannes erkennt sie, dass er sie als Deutsche identifiziert hat und dass er sie womöglich für marklose Landratten hält.

      Als Ida glaubt, endlich am Ziel zu sein und die Fähre hoffnungsvoll verlässt, steht ein Boot bereit, auf dem einer eine Schild hochhält, das ihren Namen und den Namen der Insel zeigt: Pedersand.

      Solange sie ihr Gepäck verstauen, deutet ihnen der Skipper mit einer missbilligenden Geste an: Die Zeit sei nicht gut gewählt. Der Mann, der sich als Postbote entpuppt, schiebt emotionslos ein einziges Wort nach, als spräche er zu seinesgleichen: »Ebbe.«

      Warum er so zur Eile mahnt, ahnen die Landratten nicht.

      Die Luft ist süßlich, modrig fremd. Aber die frische Brise tut gut, sehr gut. Das findet auch Ben.

      Weit hinten im Nichts sind bald schemenhaft graugrüne Konturen zu sehen. Je näher sie kommen, kann Ida auf einer deutlichen Schräge ein paar Gebäude und wenige Bäume erkennen. Langsam formt sich vor ihren Augen etwas, was wie eine grüne Eisscholle anmutet, die nördlich auf einer anderen Scholle aufliegt.

      Das kleine Eiland gleicht südöstlich einer flachen Hallig, nordwestlich scheint es eine mannshohe Steilküste zu haben. Nur einen bäuerlich anmutenden Dreiseitenhof kann man von Weitem erkennen. Davor breiten sich Wiesen und Koppeln aus, die von windschiefen Gattern gezäunt sind. Vieh ist nicht zusehen. Aber ein zerschundener Bollerwagen steht am Weg für ihre Koffer bereit, gleich hinter dem Anlegesteg. Der Mann vertraut