Mozart. Karl Storck. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl Storck
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754182369
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entgegentritt.

      Stil ist, historisch genommen, eine Art der Formengebung, die zu einer gewissen Zeit derartig natürlich erschien, daß sie alles beherrschte und alles ergriff. Man hat im Zeitalter der Gotik keineswegs bloß Kirchen und das den Kirchen Zugehörige gotisch gestaltet, sondern alles, was gebaut wurde, in diesem Geiste gehalten. Ebenso nachher in der Renaissance. Es ist klar, daß eine solche Auffassung des Stils und damit die Herrschaft eines Stils sich nur in Zeitaltern entwickeln kann, in denen das gemeinsame Fühlen außerordentlich groß, in denen fast eine Einheitlichkeit des Kunstempfindens vorhanden ist. Denn zum Stil wird nur eine Form, die allen als die natürliche Aussprache eines künstlerischen Inhalts erscheint. Es ist darum ganz natürlich, daß, sobald in der Menschheit das Gefühl dieser großen Einheitlichkeit nachließ, sobald die Willkür des persönlichen Fühlens im Einzelgeschmack die Herrschaft an sich riß, Stile nicht mehr so leicht entstehen konnten; und wenn das doch geschah, das Gefühl sich einstellte, daß ein Stil nicht alles ausdrücken könne, daß er vielmehr für ganz bestimmte Sachen besonders geeignet sei. Wir stehen heute auf dem Standpunkt, daß der Stil nicht mehr der Ausdruck einer bestimmten Zeit, sondern die beste Ausdrucksweise für eine bestimmte Sache ist.

      Daß von den Künstlern, zumal wieder auf dem hier sinnfälligsten Gebiete der Architektur, gegen diese Erkenntnis fortwährend gefehlt wird, ist allbekannt und oft bedauert. Es stehen sich hier zwei von der geschichtlichen Entwicklung her begreifliche Gefühlswelten gegenüber, von denen die eine, die ihren Antrieb mehr aus der geschichtlichen Betrachtung der Vergangenheit gewonnen hat, jene Einheitlichkeit alles Dargestellten zu erreichen sucht, die in vergangenen Zeitaltern von selbst zustande kam, die also alles in einem bestimmten Stil darstellte. Man denke z. B. an die romanische Anlage des Platzes um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin, wo auch die Privathäuser, die Geschäftsräume, Wirtschaftsstuben, die Hallen des Zoologischen Gartens, die Laternenpfähle, ja, wenn es dazu käme, eine Bedürfnisanstalt im romanischen Stil errichtet sind. Das ist aber eine künstliche Zurückschraubung des Empfindens ins Historische, die gerade bei der Kunst unmöglich und unlebendig ist. Es liegt zweifellos daran, daß heute die Architektur die unproduktivste aller Kunst ist, wenn solche Fälle überhaupt noch möglich sind.

      Die entgegengesetzte Richtung beruht auf dem Gefühl der Sachlichkeit, der inneren Wahrheit der Kunst, und sie verlangt, daß die Form aus dem Inhalt heraus gestaltet werde, daß also der Inhalt gesetzgeberisch wirkt. Der aus der Geschichte geschöpfte Einwand der ersten Richtung, daß in Zeitaltern, deren künstlerische Überlegenheit über unsere heutige alle willig anerkennen, die Einheitlichkeit der Form, die Alleinherrschaft eines Stils vorhanden gewesen sei, ist nicht stichhaltig. Gerade die Fähigkeit, historisch zu empfinden, vergangene Zeiten in ihren seelischen und damit Kunstäußerungen zu verstehen, bewirkt es, daß wir gewisse Stilformen als den Ausdruck eines ganz besonderen seelischen Empfindens fühlen, daß diese Formen damit für uns Ausdrucksmittel eines Seelischen geworden sind und nicht mehr gegebene Formen. Gerade auf dieser Herrschaft des Seelischen beruht es, daß wir keinen Stil mehr erhalten. Dieses Seelische ist individuell, persönlich, der Stil dagegen ist etwas allgemein als gültig Anerkanntes. Je stärker die Individualität sich ausgeprägt hat, je zahlreicher und stärker die Persönlichkeiten werden, um so weniger wird die große Masse den Ausdruck einer einzelnen Persönlichkeit so sehr als den eigenen empfinden, daß sie diesen Ausdruck als einen Stil anerkennt, das ist als die Form, in der sich ein Bestimmtes allein oder doch am besten ausdrücken läßt. Wir haben ja gerade in den letzten Jahren der ewigen Stilsucherei massenhaft Stile einzelner Künstler erhalten, d. h. ein einzelner Künstler fand für sich eine Form, in der er bestimmten Zwecken entsprechende Dinge naturgemäß ausdrücken zu können glaubte. Auch bei den gelungensten derartigen Versuchen ist es nur dahin gekommen, daß man das betreffende Werk als ein vorzügliches persönliches Kunstwerk anerkannte, nicht aber als den Stil, d. h. als die einzige oder doch die vollkommenste Ausdrucksform der betreffenden künstlerischen Aufgabe. Als einzige Ausnahme stände allenfalls Richard Wagners Musikdrama da, wobei wir aber doch fühlen, daß auch hier der Stilkreis weit enger umschrieben ist, als man lange Zeit annahm, indem wir immer mehr empfinden, daß es vor allen Dingen die Persönlichkeitswelt Wagners war, die diesen Ausdruck gebot.

      Mozart steht hier gewissermaßen auf der Grenze der Zeit. Wir brauchen uns nur den Namen Beethoven ins Gedächtnis zu rufen, um das zu fühlen, denn in Beethoven empfinden wir mit Recht den Musiker, der sich für sein persönliches Erleben die Kunstform schafft, während wir bei Mozart noch den Fall haben, daß er die Formen als solche übernimmt. Allerdings auch bereits nicht mehr um der betreffenden Formen willen, sondern weil sie ihm geeignet sind, ein bestimmtes Empfinden und Wollen auszudrücken. Die Subjektivität, die Persönlichkeit Mozarts offenbart sich gerade im Nebeneinander verschiedenster Stile, bzw. in deren höchster Vereinigung, und endlich darin, daß ihm diese Stile alle Mittel zum Zweck, also Ausdrucksmittel eines Seelischen sind. Die Tatsache, daß für jeden schöpferischen Gedanken eine Ausdrucksform die idealste sein muß, erheischt im Ideal in jedem Einzelfall die Schöpfung einer neuen Form. In der Einschränkung, die eine solche theoretische Forderung dadurch erhält, daß auch der am weitesten aus der Masse hervorragende Künstler doch mit einem großen Teil seines ganzen Seins noch in dieser Masse steht, haben wir diesen Fall bei Beethoven, der überkommene Stilformen, also die dem Massenempfinden entsprechende Ausdrucksweise ruhig übernimmt, sie aber nach seinen persönlichen Bedürfnissen um- und abwandelt, erweitert, dehnt oder auch sprengt und völlig Neues einschiebt.

      Dieses Titanische und Prometheische, das in Beethoven von allen großen Künstlern am stärksten war, fehlte bei Mozart. Wir wollen bedenken, daß wir es in der deutschen Dichtung auch erst bei Goethe finden. Die Grenzscheide der Zeit geht hier vorüber. In der Musik können wir sie zwischen Mozart und Beethoven hindurchführen. Wir müssen sagen, daß Mozarts Empfinden nicht in der Art von dem seiner Zeitgenossen verschieden war, sondern nur in der Stärke. Seine Kunst zeigt nicht den Gegensatz des Einzelmenschen zur Welt, wie etwa die Beethovens. Mozart empfindet tiefer, reicher, stärker, mannigfaltiger als die Welt, in der er steht, aber sein Empfinden wurzelt im gleichen Erdreich. Daher reichen für ihn auch die vorhandenen Stilformen aus. Was ihn vor allen anderen auszeichnet und ihm eine Sonderstellung einräumt, ist die Tatsache, daß er alle vorhandenen Stile beherrscht. Was ihn von der Vergangenheit scheidet, ist, daß für ihn der Stil bereits Inhaltsausdruck ist. Selbst der Riese Joh. Seb. Bach hat – natürlich nur äußerlich betrachtet – für ganz verschiedene Empfindungswelten, für einen Tanz wie für eine Kirchenkantate dieselben Stilformen gebraucht. Genau so etwa, wie der Künstler im Zeitalter der Gotik den Spitzbogenstil für einen Dom wie für ein Gartenhäuschen oder für einen Stuhl anwandte. Mozart aber hat jenes moderne Stilgefühl, daß jeder Stil bereits einen Ausdruckscharakter in sich trägt und darum für bestimmte Ausdruckszwecke besonders geeignet sei.

      Er hat nun diese verschiedenen Stile, die sich, wenn wir vom Kirchenstil absehen, den er ja aus der konservativsten Hand, der Padre Martinis, empfangen hat, als Nationalstile herausgebildet hatten, in so früher Zeit in sich aufgenommen, daß sie ihm alle zu natürlicher Geläufigkeit kamen. Denken wir an die Art, wie Kinder in fremde Sprachen hineinwachsen, wenn die Eltern längere Zeit im fremden Lande bleiben, wie sie aber dennoch unter günstigen Verhältnissen ihrer heimischen Sprache und ihres heimischen Sprachgefühls nicht verlustig gehen. Sie vermögen nicht nur – um einen geläufigen Ausdruck zu brauchen – wie Erwachsene in verschiedenen Sprachen zu denken, sondern auch in verschiedenen Sprachen zu fühlen. In dieser Weise beherrschte Mozart außer dem alten kontrapunktisch polyphonen Stil in vollkommener Weise die verschiedenen Stilarten der neueren Zeit: er hatte das volle Empfinden für den Stil der italienischen Oper, für die davon grundverschiedene Art der französischen Deklamationsoper und endlich auch den aus dem Liede heraus geborenen Stil des deutschen Singspiels. Er hat auch, um das gleich hier vorweg zu nehmen, Glucks Opernstil in genau dieser Art sich zu eigen gemacht. Er hat Glucks Oper nicht als eine Prinziplösung angesehen, sondern rein musikalisch, als eine Stilart mehr, die für gewisse Sachen ihm als die beste erschien (so ist er fast bis zur Kopie Glucks gegangen in der unterirdischen Stimme im »Idomeneus«).

      Dadurch, daß nun Mozart einen Stil nicht als Formprinzip übernimmt, sondern als Ausdrucksmittel, vermag er die verschiedensten Stile gleichzeitig zu benutzen; das einigende