Ausgerechnet an diesem sturmgebeutelten Tag musste Jan Johannsen mit dem Zug nach Frankfurt fahren. Ausnahmsweise! Sonst nahm er immer seinen herzallerliebsten ollen Kombi, ein Auto, das ihn nun schon seit vielen Jahren sicher durchs Leben begleitet hatte. Mittlerweile standen jedoch schon über 200.000 km auf dem Tacho, und täglich rechnete Jan damit, dass sein Treuer endgültig den Geist aufgeben würde – die Katastrophe schlechthin... Die Horrorvorstellung, mitten auf dem viel befahrenen Frankfurter Innenstadtring just aus diesem Grund liegen zu bleiben, hatte ihn zum Zugfahren gebracht. Eine schöne Gelegenheit für einen kleinen Spaziergang zum malerisch am Waldrand gelegenen Bahnhof von Bad Salzhausen, um dann ganz gemütlich mit der Bummelbahn nach Friedberg zu tuckern und anschließend mit der S-Bahn in die „große, weite Welt“, sprich nach Mainhatten, der amerikanisch anmutenden Stadt am schönen Main, weiterzufahren. Hier hatte er früher einmal gewohnt. Zusammen mit Lina. Im quirligen Bornheim, wo immer etwas los war, eine schöne Zeit – bis es dann zur Katastrophe kam. Eine lange Geschichte, aber dann hatte es erst ihn und dann Lina Richtung Vogelsberg verschlagen. Aber trotzdem war ihm Frankfurt noch immer nahe, kein Wunder, vom Vogelsberg aus konnte man bei guter Sicht sogar die Skyline sehen. Nun war er unterwegs in seine alte, zweite Heimat. Allen Warnungen zum Trotz. Die Themen „Megasturm, Wintergewitter, Gefahren für Leib und Leben“ hatte er einfach ignoriert, oft genug schon war er auf die immer dramatischer klingenden Wetterwarnungen hereingefallen – um dann festzustellen, dass alles nur heiße Luft gewesen ist. Oder auch mal kalte, je nach Jahreszeit. Auf jeden Fall übertrieben diese Wetterfrösche immer maßlos. Heute wurde seiner Meinung nach überhaupt mit allem übertrieben, die ganze Gesellschaft war eine personifizierte Übertreibung, gepaart mit einer dauerhaften Empörung. Im Grunde genommen fand Jan schon seit Längerem, dass die Welt komplett GAGA war. Und er war mittendrin und vermutlich keinen Deut besser…
Ein Termin beim Hals-Nasen-Ohrenarzt stand an, bei Dr. Siegerland auf der Kaiserstraße, seinem angestammten Kiez, mitten in der sündigen Bahnhofsgegend, wo er früher schon zum Inventar gehörte. Damals, als er beim kleinsten Heimweh nach der Hansestadt, genauer gesagt nach der Reeperbahn, direkt die U4 von Bornheim über die Hauptwache Richtung Hauptbahnhof genommen hatte. Nur um sich wieder einmal so richtig heimisch fühlen zu können - inmitten all der roten Laternen, die im Grunde nicht vorhanden waren, aber gefühlt jeden Meter der Kaiserstraße säumten. Keine Lilli Marleen zu seh’n, aber zumindest die eine oder andere Dame, die wie eine neuere Ausgabe von ihr daherkam.
Alles befand sich im Wandel, die Dinge veränderten sich in rasantem Tempo, dachte Jan während der Zugfahrt, als er die Landschaft so rasch an sich vorbeiziehen sah. Kein Mensch konnte mehr Schritt halten mit der Zeit, die immer schneller davonzurasen schien – gerade so wie ein Zug, der mit jedem Meter mehr an Fahrt gewann. Nur das älteste Gewerbe der Menschheit blieb bestehen.
Würde sich daran je etwas ändern?
Nur kein Stress!
Nebenan hörte man jemanden kräftig niesen, was um diese Jahreszeit kein Wunder war. Grippezeit in Deutschland, die Krankenstände auf Rekordzahl – und das vermutlich nur, weil die Krankenkassen an der Impfung sparen wollten und einen wichtigen Virenstamm „gespart“ hatten. Jan war jedoch nicht wegen eines profanen Schnupfens bei Dr. Siegerland im Wartezimmer gelandet. Er hatte auch nicht die klassische Männergrippe, wie sie jeder Mann mehrfach im Jahr nur knapp überlebte, nein, mit solchen Kleinigkeiten gab er sich schon seit Langem nicht mehr ab. Vielmehr trieben ihn Ohrenschmerzen und komische Töne, die anscheinend nur er hörte, in die Praxis des berühmten HNO-Papstes, der auf der belebten Kaiserstraße, mitten im Rotlichtviertel, der sündigen Meile nahe des Frankfurter Hauptbahnhofes seiner ärztlichen Kunst nachging. Ihn konsultierten gerne und regelmäßig die Künstler der Städtischen Bühnen, die Ballerinas, die Chorsänger aus der ersten, zweiten und letzten Reihe, die Startenöre und Operndiven genauso wie die zahlreichen Gastmusiker und Sänger, die in der Mainmetropole gastierten und plötzlich von unerträglichen Halsschmerzen oder anderen existenzgefährdenden Symptomen überfallen wurden und dringend auf eine Art Wunderheiler angewiesen waren, wenn am Abend der große Auftritt stattfinden sollte.
Irgendetwas hatte der Herr Doktor an sich, eine geheimnisvolle Aura, eine Art Magie. Jedenfalls vertrauten ihm die meisten Kreativen blind, was wohl einen Großteil der Heilerfolge ausmachte. Davon sprach die halbe Kunstwelt! Vermutlich kochte der auf Hals, Nasen und Ohren spezialisierte Schulmediziner jedoch auch nur mit Wasser, verschrieb vermutlich nichts anderes als seine geschätzten Kollegen. Trotzdem wirkten seine Mittel anders, warum, das wusste niemand so recht. Aber es wirkte anscheinend! Zudem hatte er das Talent, die hochsensiblen Künstler mit entsprechendem Respekt zu behandeln, sie hier und da zu hofieren – und ihnen selbstverständlich das Gefühl zu geben, dass sie genau HIER richtig waren. Es schmeichelte ihnen, wenn sie vom „Onkel Doktor“, wie er sich selbst manchmal bezeichnete, wertgeschätzt und gebauchpinselt wurden. Echte Diven brauchen so etwas.
Jan Johannsen, dessen Ohr vor fast sechs Jahren auf ungefähres Niki-Lauda-Format verkohlt und geschrumpft war, begab sich auch genau deshalb immer wieder in die Hände von Dr. Siegerland, der offensichtlich der einzige Mediziner war, der wirklich verstehen konnte, was in einem Mann vor sich ging, der direkt nach dem Überleben einer Naturkatastrophe auch noch eine große Karriere als Maler gemacht hatte. Eine Art moderner Vincent unserer Zeit war er durch diesen Schicksalsschlag geworden, der „Van Gogh vom Keltenberg“. Er hatte im wahrsten Sinne des Wortes Glück im Unglück gehabt – die Kasse klingelte bis heute kräftig. Allerdings, man konnte es schwerlich leugnen: Er war auch von seiner nervlichen Konstitution nah an dem Genie, das ihm den berühmten Namen knapp 130 Jahre nach seinem mysteriösen Tod vererbt hatte. Mit anderen Worten, ein durchgeknallter Typ, Künstler halt! Übersensibel, aber hochbegabt. Jan fühlte sich nicht nur deshalb seinem verstorbenen Malerkollegen eng verbunden. Zufällig sah er ihm auch noch ähnlich, fast wie Vincent auf seinen Selbstportraits - zumindest, wenn er unrasiert war und sein Haupthaar schon länger keinen Kontakt mit einer Friseurschere gehabt hatte. Nicht zu vergessen, sein altes Flanellhemd, das Karierte – es hätte auch aus vergangener Zeit stammen können.
Vor seinem geistigen Auge sah er noch einmal die Schlagzeilen aus dem Jahr 2012:
GETROFFEN! Maler, der aussieht wie Van Gogh persönlich, überlebt Blitzschlag. – UNGLAUBLICH!
Sein rechtes Ohr ist verbrannt. – UNHEIMLICH!
Vincent lebt!
Der Van Gogh vom Keltenberg!
Meine Güte, die Zeit war so schnell vergangen, dachte Jan. Und er war älter geworden, nicht nur auf dem Papier. Aber das war heute sein geringstes Problem. Bilder von damals stiegen in ihm auf, die ganze Szene auf dem berühmten Glauberg in der Wetterau, vor den Toren Frankfurts und am Fuße des hessischen Vulkans, dem Vogelsberg. Und immer wieder musste er an Lina denken. Seine Lina… Komisch, was einem beim Warten so alles in den Sinn kam, dachte Jan. Zuhause kam er überhaupt nicht mehr zum Nachdenken oder zum Tagträumen. Der Trubel im „Café Klatsch und Tratsch“ und sein kleiner Sohn Bastian, den er liebevoll Basti nannte, hielten ihn stets auf Trab. Da musste er tatsächlich in das große, laute Frankfurt fahren und darauf warten, dass er aufgerufen wurde, um sich einmal wieder in innerer Stille mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Ein Hamsterrad war sein Leben geworden, erkannte er. Kein Wunder, dass sein Ohr nie zur Ruhe kam. Und nicht nur sein Ohr.
Nach dem zweiten Cappuccino aus der zischenden Maschine, die im modern eingerichteten Wartezimmer zur Selbstbedienung stand, erschien eine der blutjungen Arzthelferinnen standesgemäß im weißen Kittel und geleitete ihn charmant in die heiligen Hallen zum Meister aller Hälse, Nasen und Ohren.
„Herr Johannsen, oder sollte ich lieber „Vincent“ sagen? Alles, alles Gute im neuen Jahr noch, auch wenn es schon ein paar Tage her ist. Das darf man doch noch Mitte Januar sagen, oder?“ Er drückte ihm fest die Hand – sein Handschlag war zum Glück nicht so ein lascher, wo man glaubt, ein toter Fisch gäbe einem