Malte schaut mich fragend an.
»Was sollte das sein? Er hat mal gemeint, das nächste Mal ginge es auf die Malediven oder nach Dubai. Aber das war natürlich im Scherz. Wir könnten uns das nicht leisten.«
»Hat Tobias irgendwie auffällig mit Geld um sich geworfen oder einen Schmuckladen oder ähnliches aufgesucht!«
Wieder ein fragender Blick. »Nee. Er hat mit Karte zwar manchen Euro auf den Kopf gehauen und mich und die Mädels auch mehrfach eingeladen, aber so überaus auffällig war das nun auch nicht. Was bedeuten Ihre seltsamen Fragen?«
»Nun, Ihr Freund ist seit zwei Tagen verschwunden. Da macht man sich doch Sorgen, oder?«
Kornbach wird immer misstrauischer. Er weiß jedenfalls nichts vom Schatz. Davon etwas mitgenommen und auf der Insel verkauft, hat Tobias wahrscheinlich auch nicht. Folglich muss der komplette Schatz irgendwo hier in Bahns Umfeld versteckt sein.
»Na, wegen zwei Tagen Abwesenheit würde ich mir da keine Sorgen machen.«
Ich frage nach Tobias’ Freundin.
»Mit Dari ist er schon länger nicht mehr zusammen. Die arbeitet jetzt in einer Art christlicher Jugendherberge in Himmelstal und ist ja wohl fromm geworden. So eine passt auch nicht zu Tobi! Die beiden haben sich immer wieder gestritten. Dann kam Corona. Da hat sich Dari völlig zurückgezogen. So jedenfalls hat Tobi es mir erzählt.«
Wieder bin ich überrascht. Kornbach spricht von jener Dari, die auch ich kenne, die Auszubildende im Tagungshaus.
»Wissen Sie, wann die beiden sich zuletzt getroffen haben?«
»Tobias hat mir erzählt, dass er noch am Tag vor unserem Abflug bei Dari in der Wohnung war. Er habe dort noch etwas vergessen, meinte er.«
»Vergessen? Was?«
»Das hat er nicht gesagt. Aber warum fragen sie jetzt all dies? Tobi ist erwachsen. Er kann auf sich selbst aufpassen.«
Bevor Malte Kornbach noch misstrauischer wird, danke ich ihm und beende das Gespräch. Ich kann nicht ändern, dass Malte mit vielen Fragen zurückbleibt. Mir geht es ja nicht anders. Vor allem fehlen mir Antworten.
*
Es ist klar: Dari ist die nächste, mit der ich reden muss. Soll ich sie überraschen? Oder besser anrufen? Ich entscheide mich für die Überraschung.
Nur sieben Minuten brauche ich vom Fleckenzentrum bis nach Himmelstal. Links der Straße hat die Telekom kürzlich einen schlanken Turm errichtet, um das Mobilfunknetz zu verbessern. Das war auch dringend nötig! Diese Strecke fahre ich inzwischen gewissermaßen im Schlaf. Auch hier liegen lange Zuckerrübenwälle. Teilweise wurden sie mit Planen abgedeckt, gehalten von alten Reifen. Ein topp renovierter Bauernhof mit vielen Nebengebäuden betreibt in der Region Zuchtversuche mit Getreide. Ich staune, dass man mit Landwirtschaft ja offenbar auch viel Geld verdienen kann. Vielleicht muss Fabian von Heimfeld in dieser Firma mal fragen, wie das funktioniert.
Immer, wenn ich das Ortsschild und etwas später die alte Wassermühle mit den Teichen und dem Bach passiere, beschleichen mich gemischte Gefühle. Einerseits ist dies mein Dorf. Ich fühle mich hier sauwohl und gehöre dazu. Andererseits komme ich mir vor wie ein Kuckuck, der sich einfach in ein fremdes Nest gesetzt hat. Damit meine ich natürlich dieses Dorf, aber vor allem auch das Haus von Maren. So sehr ich es mag und mich dort zu Hause fühle, so sehr empfinde ich manchmal, dass ich dieses Geschenk nicht verdient habe und noch immer ein bisschen fremd bin.
Ich parke zwischen Kirche und Tagungshaus vor einem grünen Lastwagen, der hier fast immer steht und den Blick von der schönen alten Feldsteinkirche ablenkt. Der Zugang zum Tagungshaus durch eine enge Pforte könnte mal wieder etwas freigeschnitten werden. Die Büsche auf der einen und Strandrosen auf der anderen Seite verengen den Durchgang. Dabei marschieren hier fast täglich Jugendliche und Erwachsene hindurch in die Kirche auf der anderen Straßenseite.
Der Wein an der roten Wand des Haupthauses trägt Früchte. Die Trauben sind klein, süß und inzwischen fast reif. Im Vorbeigehen nasche ich ein paar davon.
Mich amüsiert das Schild zwischen den Reben am Pfosten der Überdachung vom Eingang immer wieder, wenn ich hier vorbeikomme. »Luther war hier nie« steht dort.
Das »nie« ist so klein geschrieben, dass man es erst auf den zweiten Blick sieht. Ob sie das irgendwann mal für den Reformationstag thematisieren? Evangelisch ohne Luther? Geht denn das überhaupt?
Ich klingle.
Eine etwas korpulente junge Frau öffnet die Tür. Sie trägt einen Kittel. Mir fällt ihr Name nicht mehr ein.
»Jens! Wie schön, dich zu sehen.«
Peinlich. Ach ja, Saskia heißt sie. Mit dem neuen Team habe ich erst ein einziges Mal zusammengesessen. Nun fällt es mir wieder ein. Saskia will nach ihrem Freiwilligen Jahr hier im Gästehaus Pastorin werden.
»Danke. Ich hoffe, es geht euch gut im Team!«
Sie lacht. »So gut es eben geht, wenn nach der Corona-Pause wieder ’zig Gruppen das Haus stürmen.«
»Aber da werdet ihr euch doch hoffentlich freuen!«
»Klar. Gastfreundschaft – dafür sind wir schließlich angetreten! Nun endlich geht das normale Leben wieder los.«
»Hoffen wir, dass die vierte Welle nicht zu heftig wird!«
»Allerdings. Einige Gruppen haben schon wieder abgesagt. Theo Beyer ist bereits wieder am Rechnen, wie das alles finanziell klappt. Die Schließungen bisher haben wir ja dank vieler Spenden und Staatshilfen gut überstanden.«
Wir stehen im Flur vor dem Aufenthaltsraum des Teams. Zwei weitere junge Leute sagen »Hallo«, Anna und Kevin. Diese Namen habe ich behalten. Anna ist sehr still, macht aber äußerlich einen verwegenen Eindruck. Glatte, dunkle und lange Haare mit hellblauer Strähne, schwarze Jeans mit diversen Rissen, schwarze Kreuzanhänger im Ohr und eine tätowierte Möwe am Hals – die jungen Christen treten heute anders auf, als selbst ich es erwarte. Kevin dagegen bedarf keiner ausgefallenen Kleidung, um aufzufallen. Er ist ein schmächtiger Blondschopf, der sich immer ins Spiel bringt.
Wir nannten das früher »Rampensau«. Heute meinen manche, es sei ADHS, nur weil Menschen auf sich aufmerksam machen und dabei äußerst bewegt und vital auftreten.
»Hey, Jens! Willst du uns einfach mal so besuchen oder wieder über ein christliches Thema interviewen?«
»Hallo. Nein, ich suche eure Kollegin Dari.«
Die drei jungen Leute werfen sich Blicke zu.
»Dari? Warum suchst du sie?«
»Eigentlich suche ich ihren Freund Tobias Bahn. Aber der ist verschwunden.«
Wieder schauen sich die drei gegenseitig an, als erwarten sie vom jeweils anderen Antworten. Kevin ergreift das Wort.
»Tobi? Den haben wir nur ein- oder zweimal gesehen. Dari ist seit langem nicht mehr mit ihm zusammen.«
»Ich weiß. Eure Kollegin wollte die Coronazeit mit euch als Team und hier in der Hausgemeinschaft verbringen. Ich würde Dari aber echt gerne sprechen.«
»Wir auch. Leider ist sie seit gestern Morgen in Urlaub.«
Es hört sich an, als gäbe es dazu mehr als diese reine Sachinformation zu sagen.
»Ihr betont das etwas merkwürdig.«
Kevin nickt. »Es ist merkwürdig. Wir wussten von nichts. Dari hat eigentlich niemanden. Als Auszubildende wohnt sie ja nicht hier bei uns, sondern drüben bei den Strombergs. Da kriegen wir natürlich nicht alles mit. Am Sonntag, beim regionalen Kirchentag, hat sie noch normal in der Küche mitgearbeitet. Aber irgendetwas muss passiert sein. Sie war extrem still. Am Montag hat sie sich dann abgemeldet, angeblich weil jemand im Bekanntenkreis gestorben ist.«
»Das könnte sogar stimmen«, Saskia