»Hab den Wagen weggefahren«, schmatzte dieser, mit einem Schokoladentaler im Mund. Er salutierte spaßeshalber im Sitzen, als Voss vorm Tresen ankam. »Wachtmeister!«
»Danke, Schubi!« Er meinte es ernst.
»Wenn ich in der Klemme stecke, erwarte ich dasselbe von dir«, schärfte er ihm ein.
Voss nickte. »Was ist mit der verbrannten Frau?«
Schumann warf ihm die Akte vor den Latz. »Das Wrack ist beseitigt. Die Tote ist weggeschafft. Die Fotos sind noch in der Entwicklung. Der Rest steht da drin.«
Der Kommissar blätterte die Akte durch. »Das ging aber schnell.«
Schumann zeigte ihm seine zehn Finger und bewegte sie wie die Beine einer flüchtenden Spinne. »Ich kann nicht schießen, aber die Schreibmaschine liegt mir zu Füßen.«
Wieder eine Gemeinsamkeit der beiden Nachtmenschen, die die Ordonnanzwaffe lediglich zur Schau trugen. Und ein möglicher Grund, warum der bullige Bulle den Nachtconcierge mimen durfte.
In dem Bericht stand, dass der herbeigeholte Bereitschaftsarzt den Tod festgestellt habe. Einen genaueren Befund erwarte man in den nächsten Tagen, wenn die Leiche obduziert wurde.
»Du hast eine Obduktion angeordnet?« Voss spitzte die Ohren, denn das bedeutete, dass man den Verdacht einer Fremdeinwirkung hegte. Mord.
Schumann schüttelte den Kopf. »Nicht ich, sondern Friedrich. Am Telefon bestand er darauf.« Er zuckte mit den Schultern. »Er wolle die Todesursache wissen, akademisch und nicht spekulativ.«
Kriminaloberrat Nikolaus Friedrich. Der Leiter des Reviers spielte sich mitunter auf, als wäre er Gott und das Revier am Stadtrand der Nabel der Welt. Voss hatte gottlob kaum Kontakt zu seinem Vorgesetzten. Kommuniziert wurde über schriftliche Nachrichten, die man sich gegenseitig auf den Tisch legte. Darin ging es meistens um die Vorkommnisse der Nachtschicht oder um Friedrichs Meinung zur Vorgehensweise seiner Mitarbeiter.
Voss überkam schon wieder Übelkeit. Diesmal allerdings im Zusammenhang mit der Obduktion. Sollte die Fremdeinwirkung nachgewiesen werden, müsste er den Tatort in seinem Gedächtnis rekonstruieren und die Ermittlungen auf die stümperhafte Beweissicherung der Schupo stützen. Selbst mit den Fotos würden ihm viele wichtige Details entgehen, weil die Streifenpolizisten wenig Ahnung von Ausleuchtung, Bildschärfe, Kontrast oder Bildbeleuchtung hatten.
Er schaute zu Schumann und legte die Akte auf den Stapel mit den offenen Bearbeitungen. Schumann konnte nichts dafür. Er war nur Laufbursche und Tippse.
»Was hat sich mit dem Nummernschild ergeben?«, fragte Schumann nach. Ein weiterer Taler verschwand im Mund. Aus Mitleid schnippte er Voss einen hin.
Voss steckte den Taler mit einem dankbaren Nicken ein. Sein Magen lehnte aber ab. »Der Wagen war gestohlen.«
Schumann fiel noch etwas dazu ein. »Wir haben den Wagen auf den Kopf gestellt und nichts gefunden. Absolut nichts. Als hätte ihn jemand präpariert.«
»Schubi«, erwiderte Voss, »du traust den Leuten zu viel zu. Wieso sollte sich jemand diese Mühe machen?«
»Die Frau hatte ja auch keine Dokumente dabei. Wir wissen nicht, wer sie war. Vielleicht eine Prominente oder die Gespielin eines Politikers?«
»Hast du ihr Kleid gesehen?«, warf Voss ein. »Eine Frau aus elitären Kreisen würde nie so einen Fummel tragen.«
Schumann legte sein Doppelkinn auf die aufgestellten Arme. »Du denkst, sie hat den Wagen gestohlen und dann einen Unfall gebaut? Für eine Diebin war sie merkwürdig gekleidet. Sah mir eher nach einer Dienstmagd aus.«
Die Nachwirkungen der Intoxikation zwangen Voss auf einen Stuhl. »Manchen Menschen sieht man die kriminellen Neigungen nicht an«, stellte er fest. »Plötzlich entpuppt sich der sittsamste Bürger als raubeiniger Verbrecher. Warten wir das Ergebnis der Obduktion ab.« Er verweigerte den nächsten Auswurf seines Mageninhaltes.
»Geh nach Hause, Voss«, schlug Schumann vor. »Mit dir kann man ohnehin nichts mehr anfangen. Wenn mich jemand fragt, bist du auf Patrouille, um Gefahrenschwerpunkte abzuklappern.«
Nachdem Gideon die Treppenstufen im Mietshaus überwunden hatte, enterte er endlich seine Dienstwohnung im dritten Stock. Kater Anubis begrüßte ihn mit schmalen Augen, denn Gideon betätigte den Lichtschalter. Er war früher als sonst von der Arbeit gekommen. Der Sonnenaufgang ließ auf sich warten. Der schwarze Kater mit den weißen Flecken an Brust, Bauch und im Gesicht humpelte durch die überschaubare Wohnung. Gideons getürmte Frau hatte diesen Streuner einst verwahrlost aufgelesen und aufgepäppelt. Das eine deformierte Vorderbein konnte sie aber nicht kurieren.
Gideons Hände begannen wieder zu brennen, da die Betäubung durch den Alkohol abebbte. Trotz der kalten Dusche im Revier überkamen ihn Erschöpfung und Müdigkeit. Die Konzentration, die nötig gewesen war, um das Fahrzeug einigermaßen sicher vom Nachtklub zum Polizeirevier zu manövrieren, hatte ihm viel abverlangt. Die nassen Sachen hing er im Badezimmer zur Trocknung auf. Seine schwarzen Anzugschuhe stopfte er mit altem Zeitungspapier aus. Etwas Milch füllte er in den Katzennapf. Dann legte er sich ins Bett.
Pünktlich um fünf Uhr abends ertönte ein einzelner Gong der Standuhr im Wohnzimmer. Da die Zimmertüren offenstanden, drang der Klang bis zu Gideon durch. Er öffnete die Augen. Durch die zugezogenen Fenster konnte man den Straßenlärm hören. Ratternde Automobile. Quietschende Schienenfahrzeuge. Menschen, die ausgelassen Konversation betrieben, weil sich der Arbeitstag dem Ende entgegen neigte und Einkäufe getätigt werden mussten. Irgendwo aus der Umgebung der Krach einer Baustelle, wo die letzten Handgriffe des Tages gemacht wurden, indem das Material für den nächsten Tag bereitgestellt wurde. Stahlträger platschten aufeinander. Steine wurden geschüttet. Wichtige Personen brüllten Anweisungen. Laute Motoren trieben Maschinen und Generatoren an, bis diese nacheinander abgestellt wurden und den Straßenzug für die anstehende Nacht vor weiteren Bodenvibrationen verschonten.
Anubis erhob sich gähnend von der Decke. Die Katze hatte sich einen kleinen, weichen Liegeplatz neben Gideon geschaffen. Ein paar Haare vom kurzen, schwarzen Fell blieben zurück auf dem Textil. Die Textur des Tieres hinterließ einen Abdruck. Er miaute einmal, als wollte er Gideon zum Aufstehen bewegen. Dieser gehorchte.
Im kompakten Badezimmer spulte Gideon die allabendliche Routine ab: Toilette, Körperwäsche, Rasur, Haarpomade. Durch die beengten Platzverhältnisse konnte er sich kaum um die eigene Achse drehen, ohne sich zu stoßen.
Frisch frisiert saß Gideon am Küchentisch und frühstückte, während andere zu Abend aßen. Ein paar Scheiben Wurst, die er sich mit Anubis teilte, der brav auf dem zweiten Stuhl hockte und sich immer aufrichtete, wenn Gideon ein Stückchen Fleisch reichte. Ein paar aufgeschlagene Eier, dazu Brot vom Vortag mit etwas Butter. Als sein Körper zu Kräften kam, spürte er das Pochen in seinen Handflächen. Einige Brandblasen waren abgeflacht und hatten sich auf gerötete Haut reduziert; andere füllten sich mit Flüssigkeit.
Mit dem Wissen, dass Anubis seinen Durst am tropfenden Wasserhahn im Badezimmer löschen und die lockere Pflanzenerde des großen, unbepflanzten Blumentopfes im Wohnzimmer für seine Geschäfte gebrauchen würde, machte sich Gideon auf den Weg zur nächsten Nachtschicht.
Obduktion
Mit dem Untergang der Sonne betrat Voss das Revier. Sein grauer Filzhut presste die pomadigen Haare in Form. Schumann hatte den Vorgänger noch nicht abgelöst, weshalb Voss zügig nach oben huschte. Die abschätzigen Blicke der Schupos genügten ihm. Er hatte kein Bedürfnis nach abfälligen Wortwechseln. Oben erwartete ihn die Tagschicht.
»Deine Verkohlte sorgt für Aufsehen!«
Kriminalkommissar Leopold Springer nahm die Füße vom Tisch, warf die Jacke über, was den bestückten Schulterholster bedeckte, und kam Voss entgegen. Springers Sommersprossen ähnelten Schrapnellen eines