Kratzen, beißen, schubsen
Hamburger Gerichtsfälle
Ausgewählt und bearbeitet von Oliver Hein-Behrens
Vorwort
Ein Blick auf die kriminelle Schattenzone
Jeden Sonntagabend werden über zehn Prozent unserer Gesamtbevölkerung - konkret zwischen acht und dreizehn Millionen Deutsche - ab 20:15 Uhr zu TV-Detektiven und helfen, den ARD-Tatort zu inspizieren und den oder die Täter zu finden.
Crime, ein Magazin des Hamburger Verlagshauses Gruner & Jahr, das sich ausschließlich mit echten Kriminalfällen beschäftigt, verzeichnet nach nur einem Jahr über 10.000 Abonnenten und stattliche 80.000 verkaufte Magazine pro Ausgabe. Auch bei den Buchverkäufen liegen Krimis ganz weit vorne.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Der gesetzestreue Bürger wirft scheinbar gerne einmal einen Blick auf die kriminelle Schattenzone. Sei es, um sich dadurch unterhalten zu lassen, oder, um sich durch die kriminellen Beispiele in seinem gesetzestreuen Lebenswandel bestätigen zu lassen.
Als ich als Herausgeber und Chefredakteur des Hamburger Stadtteilmagazins „Ottensener“ die Inhalte plante, musste ein journalistisches Augenmerk auch darauf gerichtet sein, was für Straftaten in Altona/Ottensen begangen worden sind. Hierfür war und ist eine wöchentliche Presseliste, die als Information für die Vertreter der Medien von der Pressestelle der Hamburger Staatsanwaltschaften erstellt wird, Gold wert. Sie bildet eine Auswahl von laufenden Verfahren ab, die laut Staatsanwaltschaft „nach Abwägung für die Berichterstattung interessant sein könnten“.
Das Stadtteilmagazin wurde nach zwei Ausgaben wieder eingestellt (sie sind aber unter www.ottensener.de noch abrufbar), die E-Mails von der Pressestelle der Staatsanwaltschaft kamen weiter bei mir an und ich ertappte mich dabei, wie ich sie regelmäßig las – und sie mich je nach Thema und Fall zum Schmunzeln, Nachdenken oder Erschaudern brachten. Der Grund hierfür: Dies waren und sind echte Fälle mit echten Tätern und Opfern, kein Tatort-Drehbuch oder Hollywood-Buster mit Special Effects.
Irgendwann sah ich das Projekt, dessen Ergebnis sie nun in diesem Moment in Papierform oder auf dem E-Reader vor sich haben, ganz klar vor meinen Augen: Ein Buch, das diese „Pressemeldungen“ der Hamburger Staatsanwaltschaft sichtet, bearbeitet und in einer Auswahl lesbar verpackt, in dem schnörkellosen, manchmal fast brutal direkten typischen Juristendeutsch zusammenfasst - für alle Krimifans, Drehbuchschreiber, angehenden Staatsanwälte, Richter und Strafverteidiger sowie sonstige Interessierte. Es ist also, wenn man so will, eine Art belletristische Zusammenfassung der Pressestelle der Hamburger Staatsanwaltschaften mit ihren rund 185 Staatsanwälten und 30 Amtsanwälten, die jährlich über 300.000 Ermittlungsverfahren ausführen, von denen sich knapp 150.000 Verfahren gegen namentlich bekannte Beschuldigte richten. Unnötig, zu sagen, dass es sich dabei nicht um Verurteilte, sondern nur um Angeklagte handelt. Oder?
Und nun, geneigte Leserin und geneigter Leser, noch einige Hinweise und Tipps, bevor Sie in die Welt der echten, ungeschminkten Kriminalität bei „Kratzen, beißen, schubsen – Hamburger Gerichtsfälle“ eintauchen:
Zum einen habe ich aus Gründen der Ad-hoc-Unschuldsvermutung und des Persönlichkeitsrechtes die ohnehin von der Staatsanwaltschaft anonymisierten Kurznamen nochmals abgewandelt sowie viele genaue Ortsangaben gelöscht oder geändert. Mit geht es nicht darum, mit dem Finger auf einzelne Angeklagte zu zeigen, sondern das breite Spektrum der Alltagskriminalität in Hamburg zu demonstrieren.
Zum anderen empfehle ich keinesfalls, das Werk in einem Stück durchzulesen, sondern es wie eine Anthologie der schwarzen Seite des Lebens zu behandeln, sich immer wieder nur einzelne wenige „Fälle“ anzusehen, um sich danach eine Abstands-Pause zu gönnen. Zumindest ging es mir, dem braven Vorwortschreiber, Sichter, Auswähler und Bearbeiter all dieser kleinen, mittleren, großen und riesengroßen menschlichen Abgründe - vom Urinstrahl, der beinahe einen Schuh trifft, bis zum Vorwurf des Kindsmordes - bei dieser Methode wesentlich besser.
Vorab noch ein einleitendes Interview mit Nana Frombach, Oberstaatsanwältin bei der Generalstaatsanwaltschaft Hamburg und Pressesprecherin der Staatsanwaltschaften - der Institution, die die „Pressemeldungen aus der kriminellen Realität“ verfasst und versendet - verbunden mit einem großen Dankeschön meinerseits an die freundliche Kooperationsbereitschaft der Hamburger Staatsanwaltschaften und an das Landgericht Hamburg, das mir die im Buch enthaltenen Fotos im Hamburger Strafjustizgebäude ermöglicht hat.
Oliver Hein-Behrens
Interview
mit Nana Frombach, Oberstaatsanwältin bei der Generalstaatsanwaltschaft Hamburg und Pressesprecherin der Staatsanwaltschaften:
Das größte Interesse besteht bei Tötungsdelikten
Seit wann gibt es die Pressestelle bei der Hamburger Generalstaatsanwaltschaft?
Die Pressestelle bei der Generalstaatsanwaltschaft wurde wahrscheinlich 1946 gegründet, hierauf lassen jedenfalls entsprechende Aktenvermerke aus diesem Jahr schließen.
Wie muss ich mir eine Pressestelle bei der Generalstaatsanwaltschaft vorstellen? Was ist Ihre Aufgabe?
Als Pressesprecherin vertrete ich die Staatsanwaltschaft und die Generalstaatsanwaltschaft gegenüber Medienvertretern und erfülle die Auskunftspflichten meiner Behörden im Rahmen des Hamburgischen Pressegesetzes. Ich bin also das Sprachrohr der Behörden bei Presseanfragen und auch bei aktiven Pressemitteilungen.
Beschreiben Sie bitte einen typischen Tag in der Pressestelle der Hamburger Generalstaatsanwaltschaft.
Mein Tag ist oft fremdbestimmt, ich versuche aber, Ihnen einen Überblick zu geben: Ich beginne morgens in der Regel damit, die Tagespresse auszuwerten. Dann klingelt ab 9.00 Uhr eigentlich auch schon das Telefon. Daneben gehen Presseanfragen per Mail ein, die ich möglichst zeitnah beantworte. Wenn meine Kollegen spannende Fälle haben, berichten sie mir davon. Ich lege dann Presseakten an, damit ich die Fälle nicht aus den Augen verliere. Auch die Pressearbeit der Polizei läuft über meinen Tisch: Alle Veröffentlichungen bei Tötungsdelikten, Sexualdelikten, Wirtschaftsdelikten, organisierter Kriminalität, Jugendsachen und politischen Straftaten werden vor der Veröffentlichung von mir freigegeben. Beginnen medienrelevante Hauptverhandlungen, gehe ich in das Gericht und stehe dort den Journalisten für O-Töne zur Verfügung. Gerne kommen die Kamerateams auch in mein Büro, um entsprechende O-Töne zu laufenden Verfahren einzuholen. Jede Woche werte ich zudem sämtliche Terminhandakten für beginnende Hauptverhandlungen der Folgewoche aus und entscheide, welche Prozesse ich in die hiesige Presseliste zur Veröffentlichung aufnehme. Diese Presseliste stelle ich dann auch selbst zusammen. Nachmittags um 15.30 Uhr bespreche ich alle eingegangenen Medienanfragen mit dem Generalstaatsanwalt und dem Behördenleiter der Staatsanwaltschaft. Nach Feierabend und am Wochenende bin ich für Journalisten, die Polizeipressestelle und die Kollegen im Bereitschaftsdienst auch über mein Mobiltelefon zu erreichen.
Wie viele Personen arbeiten in der Pressestelle und was sind ihre einzelnen Aufgaben?
Ich selbst leite die Pressestelle als Pressesprecherin. Daneben bearbeite ich in geringem Umfang auch Rechtssachen. Neben mir arbeitet als Vertreter Herr Oberstaatsanwalt Rinio überwiegend in meiner Abwesenheit oder zur Unterstützung bei sog. Presselagen als Pressesprecher neben seinem eigenen Dezernat. Die Aktenverwaltung der Pressestelle wird von einem Geschäftsstellenmitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft neben dessen anderen Tätigkeiten mit übernommen.
Haben Ihre Mitarbeiter journalistische Grundkenntnisse?
Die Pressesprecher nehmen an Schulungen der Deutschen Richterakademie teil, in denen in geringem Umfang auch journalistische Grundkenntnisse vermittelt werden. Außerdem haben wir an einer alle zwei Jahre stattfindenden Tagung niedersächsischer Staatsanwaltschaften teilgenommen, bei der die staatsanwaltschaftlichen Pressesprecher auch journalistisch geschult worden sind.
Haben