Und wäre beinahe in einen großgewachsenen, alternden Typ gelaufen.
»Verzeihung.« Ohne sich davon abhalten zu können, warf Lilian dem Mann ein besänftigendes Lächeln zu, welches dieser herzlich erwiderte.
Dabei wollte er niemanden mehr anlächeln! Er wollte niemandem mehr Sympathie oder Mitgefühl entgegenbringen!
»Nicht so eilig, junger Mann«, sprach der grauhaarige Herr beschwingt, dessen markanter Bassbariton auf eine wohlklingende Gesangsstimme schließen ließ. »Ansonsten könnten Sie das Glück Ihres Lebens übersehen.«
»Mir kann Derartiges nie passieren«, erwiderte Lilian ebenso ungewollt. »Glück existiert nicht. Genauso wenig wie Götter oder wahre Liebe.«
Verflucht noch einmal!
Weshalb rutschte er dann und wann in sein altes Verhalten ab? Weshalb gelang es ihm nicht, sich durchwegs kühl und unnahbar zu geben?
Er hatte sich geschworen, niemals mehr etwas über sich selbst preiszugeben! Keine persönlichen Meinungen, keine Wünsche, keine Sehnsüchte, keine Einschätzungen. Ein jedes Wort, das man über sein Innerstes verlor, gab Mitmenschen die Gelegenheit zum Gegenschlag. Gelegenheiten, um dich auszuweiden, zu mobben, schlechtzumachen und letztendlich psychisch umzubringen.
»Na, na. Nicht so negativ.« Des Mannes Grinsen wuchs in die Breite. »Das Leben ist schwer genug, da muss man es sich nicht noch selbst schwerer machen.«
»Man braucht es sich gar nicht selbst schwerzumachen«, entgegnete Lilian trocken. »Dafür gibt es Mitmenschen. Diese schaffen ein solches Kunststück mit Leichtigkeit. Ein gutes Beispiel stellen Freunde oder Familienmitglieder dar: Man glaubt, man könne sich vertrauen und gegenseitig helfen. Stattdessen sitzen die lieben Bekannten dann in der Hängematte, währenddessen du ihnen den verdammten Rasen mähst.«
Der Grauhaarige lachte.
Eigenartig.
Bezüglich seiner spitzen Zunge musste Lilian sich üblicherweise Spott und Häme anhören. Die einzige Ausnahme hatte sein Vater gebildet: Dieser hatte regelmäßig über seine trocknen Tatsachen und den schwarzen Humor gelacht.
Nun, wie dem auch sei. Es wurde allerhöchste Zeit zu gehen.
Um der Bürokraft ein letztes »Auf Wiedersehen« zuzurufen, drehte Lilian sich ihr zu … Und abrupt hielt die Zeit an. Neuerlich legte sich dieses warme Empfinden um ihn und umschmeichelte sein Innerstes wie eine Kaschmirdecke – ausgelöst durch ein unwahrscheinlich offenes, ehrliches Lächeln vonseiten des Mädchens. Diese Geste der Freude brachte ihre Augen, ja ihre gesamte Gestalt zum Strahlen und versetzte seiner Seele einen zarten Stoß …
Lilian schluckte hart, kämpfte gegen die Trance, versuchte seine Gehirnleistung zum wiederholten Male einzuschalten.
Hatte sein Sarkasmus es allen Ernstes vollbracht, eine Frau zu erheitern?
Er konnte es kaum fassen.
Doch weniger die Tatsache an sich, dafür vielmehr diese tief aus des Mädchens Innersten dringende Fröhlichkeit war es, welche ihn vollumfänglich durcheinanderbrachte. Dermaßen durcheinander, alsbald Lilian in seinem Wagen saß, wusste er nicht einmal mehr, ob er sich verabschiedet hatte. Ausnahmslos ein Gedanke kreiste unaufhörlich durch seinen aufgekratzten Geist: Sie sieht wunderschön aus, wenn sie lächelt.
Lavanda hasste den Sonnenschein. Davon brannten ihr die Augäpfel, des Weiteren schmerzte dieser ihr in der Seele. Diese übertrieben kitschige Fröhlichkeit, die lachenden Personen um sie herum. Sie ertrug es nicht. Nicht mehr. Jahrelang hatte sie es erduldet, sich ihren Mitmenschen angepasst, all die unerträglichen besserwisserischen Sprüche, die Ratschläge, das infantile Hochjubeln der Hoffnung akzeptiert – ja, sich sogar mitreißen lassen.
Ein einziges Mal.
Ein einziges Mal hatte sie echte Hoffnung verspürt, sich hübsch, begehrenswert, genug gefühlt.
Dabei war Lavanda es nie gewesen. Niemals in ihrem Leben würde sie genügen. Dies bildete nicht ihr Schicksal.
Manch ein Mensch fand sein persönliches Glück, erhielt Zuspruch, wurde erfolgreich, verwirklichte seine Träume und erreichte seine hochgesteckten Ziele.
Ihr gelang nichts davon. Nicht einmal die unscheinbarsten Wünsche wollten in Erfüllung gehen – trotz jahrelanger Bemühungen, trotz des Besiegens diverser Ängste, trotz Veränderungen und Ausdauer.
Nichts hatte funktioniert.
Im Gegensatz zu den meisten Personen hatte sie keine teuren Urlaube, ein Penthouse oder einen PS-starken fahrbaren Untersatz verlangt – einzig friedvolle Momente mit dem meistgeliebten Menschen in ihrem Leben.
Ein Spaziergang. Ein langes, gemeinsames Wochenende im Bett. Ein Kinoabend oder ein Restaurantbesuch. Gemeinsames Shopping – ja, für Männer klang dies ausnahmslos nach Geldverprassen und kreischenden Weibergefechten um einen überteuerten Designerfetzen. Sie hingegen stellte sich etwas gänzlich anderes darunter vor: Anprobieren von Dessous, welche neben ihr ebenfalls ihn ansprachen – immerhin kaufte sie solche Teile hauptsächlich für ihn, nicht für sich selbst. Elektronikartikel gustieren. Shops und Produkte bestaunen, die ihm zusagten – ob dies nun Kettensägen, Computer, Mode oder Tuningartikel für sein Fahrzeug gewesen wären, war ihr völlig gleich. Gemeinsam eine schöne Zeit verbringen – sich küssen, sich lieben, über anregende Themen sprechen.
Das war alles.
Das war ihr Wunsch, ihre Sehnsucht, ihr einziges gottverdammtes Verlangen.
Nichts davon hatte sich jemals erfüllt. Nichts davon würde sich jemals erfüllen.
Alleine in ihrer Vorstellung …
Tja, womöglich klang ihr Idealbild nicht unbedingt nach Emanzipation. Im Gegensatz dazu war sie eine der wenigen alles selbst bewerkstelligenden Frauen.
Einzig für die Reparatur ihres Computers hatte sie sich Hilfe suchen müssen – und man hatte sie ausgenommen wie eine Weihnachtsgans und überdies ihr geliebtes Gerät mutwillig zerstört.
Abgebrochene Prozessorpins sagten genug, mit welcher Gewalt man ihren Computer bearbeitet hatte.
Nach diesem Vorfall hatte Lavanda sich autodidaktisch sämtliches Wissen angeeignet, um ihre Geräte selbstständig zu reparieren oder zusammenzubauen.
Seit Lebzeiten hatte sie sich alleine durchgeschlagen. Sie hatte keine Freundinnen, die sie um Hilfe bitten konnte. Eher war sie es, die all ihren Mitmenschen Tipps und Informationen gab und zu beinahe jeder Frage eine Antwort wusste.
Wusste sie jedoch einmal etwas nicht, hieß es sofort: Du kannst nicht andauernd »keine Ahnung« sagen, davon wirst du dumm. Du musst alles wissen.
Falls sie nach Informationen oder einer Hilfestellung in einem Geschäft verlangte, erhielt sie kaum Rückmeldungen – eher noch wurde ihr das Gefühl übermittelt, zu blöd, zu langweilig, zu fraulich zu sein.
Lavanda stellte die Zahnbürste in den perlmuttfarbenen Becher, welcher von einer hochglänzenden Messinghalterung an der elfenbeinfarbenen Fliesenwand befestigt worden war, und zog sich das dunkelblaue Etuikleid über. Um nicht übermäßig viel Zeit zu verplempern, dennoch adrett, selbstbewusst und businesslike zu wirken, befestigte sie ihr Haar mit einem goldfarbigen Haarstab.
Der einzige Nachteil: Dieses günstige Ding würde ihr vermutlich den gesamten Tag über in ihre sensible Kopfhaut drücken und ihr in weiterem Verlauf Kopfschmerzen bereiten.
Sie seufzte, betrachtete sich nochmals im Spiegel – und bemerkte die sich monatlich ausdehnenden Geheimratsecken, den sich teilweise nach hinten verlagernden Haaransatz …
»Männliche