Ein weiterer, verzweifelter Blick auf die Uhr über der Zimmertür, erinnerte Lisa unerbittlich daran, dass sie sich nun, vielleicht für immer, von ihrer Großmutter verabschieden musste.
Sie verharrte still, wie festgefroren, auf dem einzigen Besucherstuhl neben dem Bett. Nun beugte sie sich vor und schob ihr Gesicht vorsichtig in die Nähe des Ohrs ihrer Großmutter, um ihr noch einige Abschiedsworte zu zuflüstern.
Lisa zuckte erschrocken zurück, als ihre Großmutter überraschend die Augen aufschlug und sie mit fiebrig glänzendem Blick anschaute. Die todkranke Frau umklammerte Lisas Hand mit ihren knochigen Fingern und murmelte mit schwacher Stimme einen Satz, an den sich Lisa für den Rest ihres Lebens erinnern würde.
„Mein liebes Enkelkind, ich weiß, dass es mit mir zu Ende geht. Möge dir ein gutes Schicksal beschieden sein. Aber um Eines wollte ich dich inständig bitten, ich trage seit meiner Kindheit ein Familiengeheimnis mit mir herum und ich möchte dass du versuchst, dieses furchtbare Geheimnis zu lüften. Ich fand immer, schon als du noch ein Schulkind warst, dass du über einen wachen Verstand verfügst und nicht jedes Schauermärchen für bare Münze nimmst. Versprich es mir in die Hand. Bitte!“
Überschrift 1
3. Kapitel
Wieder drückte die alte Frau, mit größerer Kraft als man es einer todgeweihten Kranken je zugetraut hätte, die Hand ihrer Enkelin.
Obwohl Lisa nicht einmal ahnte, worum es ging, beteuerte sie nachdrücklich ihre Bereitschaft, alles zu tun, um dieses Familiengeheimnis aufzuklären.
Ihre Großmutter raffte ihre letzten Kräfte zusammen und begann, Lisa eine seltsame, tragische Begebenheit aus ihrer eigenen Kindheit zu erzählen, von der Lisa noch nie zuvor auch nur ein einziges Sterbenswörtchen gehört hatte. Die Erzählung ließ sie, trotz der lauen Sommerluft, in ihrem dünnen Kleid frösteln.
„Wie du weißt, stamme ich aus dem Süden des Landes und bin erst als junge Frau, der Liebe zu deinem Großvater wegen, nach Norden ins flache Land mit den vielen Feldern und Obstwiesen gekommen. Die Landschaft meiner Kindheit war auch wunderschön, mit vielen Hügeln, Wäldern und Seen. Ich bin in einem kleinen Dorf geboren worden, nicht allzu weit von einem riesigen See entfernt."
Nach einer Pause fuhr sie fort:
"Dieser See, der uns in unserer Kindheit noch viel riesiger erschien, als er tatsächlich ist, hatte eine schöne, flache Badestelle mit einem kleinen Sandstrand, der von uns Kindern aus dem Dorf in den Sommermonaten gerne zum Spielen und Schwimmen genutzt wurde. Damals ist man noch nicht in die ganze Welt hinaus in den Urlaub gefahren. Wir haben praktisch den ganzen Sommer dort verbracht. In den Schulferien waren wir von morgens bis abends dort. Unsere Mütter haben uns Brotstullen geschmiert, meine war meistens mit Leberwurst belegt.“
Ihre Großmutter lächelte bei dieser Erinnerung versonnen vor sich hin, dann wurde sie plötzlich sehr ernst.
„Einen Wermutstropfen gab es allerdings bei diesem schönen Plätzchen. Es ging im Dorf eine uralte Geschichte um, die jedem Kind erzählt wurde. Wirklich jedes Kind kannte diese Geschichte, aber keines der Mädchen und keiner der Jungen wussten, ob sie die Geschichte glauben sollten oder nicht. Schließlich war viele Jahre lang nichts passiert. Aber das hatte nicht wirklich etwas zu bedeuten. Gerade wenn alle Dorfbewohner glaubten, der Fluch des Sees sei überwunden, passierte doch wieder ein schlimmes Unglück.“
Lisas Hand verkrampfte sich, als sie einen Blick auf die Uhr über der Tür warf. Die Zeit verrann unerbittlich und sie musste dringend zur Arbeit. Aber die Erzählung hier war extrem wichtig, das spürte sie tief in ihrem Inneren. Um die Geschichte in Ruhe zu Ende hören zu können, musste sie dringend auf ihrer Arbeitsstelle Bescheid sagen. Sie flüsterte ihrer Großmutter ins Ohr, dass sie kurz aus dem Zimmer gehen müsste, aber gleich wieder zurückkäme.
Sie nahm ihr Handy und schlüpfte hinaus auf den Flur. Dort wählte sie hastig die Telefonnummer ihrer Chefin im Pflegeheim und teilte ihr mit, dass sie heute etwas später zur Arbeit kommen würde, weil ihre Großmutter im Sterben lag und sie noch eine wichtige Unterhaltung führten.
Da ihre private Situation auf ihrer Arbeitsstelle bekannt war, hatte ihre Chefin Verständnis für ihr Anliegen.
Erleichtert schlüpfte Lisa zurück ins Krankenzimmer, um sich den Fortgang der Erzählung anzuhören.
„Ich bin wieder da, Großmutter, “ wisperte sie und ließ sich erneut auf dem unbequemen Besucherstuhl nieder.
Die alte Frau holte Luft so gut es ging. Sie ließ sich von ihrer Enkelin einige Schlucke Wasser reichen und fuhr dann fort:
„Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, jetzt erinnere ich mich. Wir hatten viele schöne Sommer, aber ein Sommer war schrecklich. Den habe ich nie vergessen, mein ganzes Leben lang nicht. Es muss in den Jahren kurz nach dem großen Weltkrieg gewesen sein, als es passierte. Ich schätze, es müssen die fünfziger Jahre gewesen sein. Ich war damals etwa zwölf Jahre alt, ein Alter in dem man sich gut an schlimme Erlebnisse erinnert. Ich habe euch nie erzählt, dass ich damals eine Schwester hatte. Sie war einige Jahre älter als ich.“
Plötzlich rannen Tränen über ihre eingefallenen Wangen. Bei Lisa, die der Erzählung bislang aufmerksam gelauscht hatte, machte sich bei diesem Geständnis augenblicklich ein flaues Gefühl in der Magengrube breit.
Was war denn das für eine seltsame Wendung der Geschichte?
Überschrift 1
4. Kapitel
Ihre Großmutter hatte niemals, noch niemals in ihrem ganzen Leben auch nur erwähnt, dass sie eine Schwester gehabt hatte. Alle in der Familie dachten, dass sie ein Einzelkind gewesen sei. Ihre Urgroßeltern, die es hätten erzählen können, waren schon seit ewigen Zeiten tot. Lange verstorben und begraben, bevor Lisa überhaupt geboren war.
Langsam dämmerte Lisa, dass möglicherweise mehr hinter dieser Geschichte steckte, als sie anfangs geglaubt hatte. Sie versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen und fasste wieder die Hand ihrer Großmutter.
„Großmutter, liebes Großmütterchen, nicht weinen. Erzähl bitte weiter. Was ist damals passiert?“, beschwor sie die alte Frau.
„An dem Tag, als meine Schwester spurlos verschwand, hat sich eine schwarze Wolke über mein Leben geschoben, die nie wieder verschwunden ist. Bis zum heutigen Tage nicht. Ich habe die Geschichte nie erzählt, weil ich euch nicht damit belasten wollte. Wie gesagt, es war ein heißer Sommer in den Jahren nach dem Krieg. Wir hatten Sommerferien und haben uns den ganzen Tag lang dort aufgehalten. Eines Tages, ich weiß nicht mehr genau, wie es dazu kam, erzählte ein älterer Junge aus dem Dorf plötzlich diese gruselige alte Legende über den See. Ach ja, sein Opa hatte sie ihm gerade einige Tage zuvor beim Abendbrot, nach einigen Flaschen Bier, eingeflüstert und ihm richtig Angst eingejagt.“
Erschöpft hielt die Todkranke inne. So lange, dass Lisa dachte, sie wäre eingeschlafen. Inzwischen war sie richtig darauf gespannt, zu hören, was damals vor Jahrzehnten am Seeufer geschehen war. Sie drückte die Hand ihrer Großmutter und drängte:
„Erzähl bitte weiter, ich will die ganze Geschichte hören.“
Minuten der Stille verrannen, in denen Lisa immer angespannter wurde. Dann fuhr die alte Frau endlich fort zu sprechen.
„Der Junge, er hieß Dieter, erinnere ich mich, erzählte, dass der See seit Urzeiten verflucht sei. Der Legende nach handele es sich bei dem schwarzen Wasser des Sees um den Höllenschlund, der immer wieder, über die Jahrhunderte hinweg, die Bewohner des Dorfes in sich hinein gesogen habe. Nicht in regelmäßigen Abständen,