Ehe es zum Verkauf der Zahnpasta kam, mußte Marion sich noch manches über Frau Violas Vergangenheit anhören. »In Berlin hatte ich Glanz um mich!« rief sie stolz. »Ich war Kunstsammlerin, ich liebte das Schöne und erwarb es in bedeutenden Mengen; ich besaß Gemälde und Tiere aus Porzellan, und bestickten Samt!« Jedes Glück aber war aus ihrem Leben gewichen, seitdem Gabriel sich zurückgezogen hatte – »Gabriel, mein Erzengel!« In Friederikes schattigen Augenhöhlen glimmten Lichter. »Gabriel, der einzige, der mich verstand; der all des innigen Gefühls, das ich zu bieten habe, würdig gewesen ist! Ach, er ging … er ging … da bog er um die Ecke!« rief sie fassungslos, als wäre der liebe Jüngling eben erst entwichen und hätte gerade dieses Zimmer verlassen. Ihre Hände krampften sich um den Koffer, der die Pasten, Crèmes und Wohlgerüche enthielt, mit denen die Unglücksfrau hausieren ging. »Warum ließ Gabriel Frau Viola?« fragte sie mit gräßlicher Hartnäckigkeit – während Marion nicht mehr wußte, wohin sie schauen sollte vor Scham und Schrecken.
Für die Zahnpasta verlangte Frau Markus elf Francs und fünfzig Centimes: »Es kommt Sie mindestens um zwölf Prozent billiger als in jedem Laden«, erklärte sie, plötzlich geschäftsmäßig. Nachdem der Handel abgeschlossen war, bat Marion die Besucherin milde, nun zu gehen. Zum Abschied sagte Friederike – sehr leise und während eine helle, flaumige Röte über ihr hageres, zerwühltes Gesicht lief: »Ich möchte Sie bald wieder einmal besuchen dürfen, liebes Fräulein von Kammer! Sie sind doch ein Mensch. Meistens begegnet man nur Lemuren …« Noch einmal erschauerte sie; der eisige Lufthauch hatte sie wohl wieder berührt. Schon im Korridor bat sie noch: »Und bitte, Etzel gegenüber – völlige Diskretion: über alles!« Dabei legte sie, lustspielhaft neckisch, den langen Zeigefinger an die verzerrten Lippen.
Friederike Markus verließ das Hotel; steif und närrisch affektiert stolzierend, schritt sie die Rue Jacob hinunter und bog in die Rue St.-Benoît ein, um den Boulevard St.-Germain zu erreichen. Das gefüllte Köfferchen, das sie zu tragen hatte, war nicht ganz leicht. Ihre eine Schulter wurde ein wenig nach oben gezogen, während die andere hinabhing. Friederikes Haltung war sowohl steif als schief – und da die einsam Wandelnde auch noch im Selbstgespräch die Lippen bewegte und zuweilen stehenblieb, um mißtrauische Blicke hinter sich zu werfen, war der Eindruck, den sie machte, ein so überraschender, daß mancher Passant mitleidig-amüsiert auf sie schaute. Sie bemerkte es kaum; denn sie war durchaus beschäftigt mit den eigenen Gedanken, die sich teils sorgenvoll-gequält ans Nächste, kümmerlich Alltägliche hielten, teils aber abglitten, davonhuschten, Reißaus nahmen, um sich in jenen Gegenden niederzulassen, wo der Jüngling, Gabriel genannt, seinen strahlenden Aufenthalt hatte. – ›Heute vormittag muß ich noch mindestens drei Visiten machen‹, rechnete Frau Viola. ›Zuerst gehe ich wohl zu dieser Schweizer Dame im Hôtel des Saints-Pères. Vorher will ich aber noch eine Tasse Kaffee trinken …‹
Sie ließ sich in einem schmutzigen kleinen Bistro nieder, das »Au Rendezvous des Chauffeurs« hieß. – Wenn Friederike eine Tischplatte vor sich sah, wurde sie immer gleich von der unwiderstehlich starken Lust ergriffen, zu schreiben. Es war eine Art von Trance, in die sie verfiel, wenn sie die Feder ins Tintenfaß tauchte – und es entstanden die endlos langen, konfusen, übrigens fast unleserlichen Briefe, die sie an berühmte und ihr meistens fremde Personen adressierte. Dichtern und Professoren, Malern und Schauspielerinnen, Dirigenten und Politikern ihr gepeinigtes Herz auszuschütten war zum einzigen Vergnügen geworden, das sie sich gönnte. Solche Liebhaberei bedeutete für sie einen Luxus, und zwar einen recht leichtsinnigen, üppig unstatthaften. Das Briefporto spielte in ihrem Etat eine beängstigende Rolle, und wenn es sich gar um Doppelbriefe handelte – was häufig vorkam – und sie obendrein noch dem inneren Drang nachgeben mußte, das schwere Schreiben rekommandiert und expreß zu senden, so hieß es gar manches Mal, tagelang auf eine warme Mahlzeit zu verzichten und sich mit altem Weißbrot und lauem Tee begnügen, damit nur all die fremden Berühmtheiten aus ihrer Morgenpost erführen, wie melancholisch und interessant das innere Leben der Frau Viola beschaffen war.
Heute schrieb sie an Frau Tilla Tibori – was sie sich schon lange vorgenommen hatte; denn diese Schauspielerin war ihr eine der liebsten in Berlin gewesen. »Verehrte Frau!« Friederikes Feder eilte knirschend übers Papier. »Auch Sie hat unser gemeinsames Unglück in ein fremdes, unwirtliches Land verschlagen.« (Die Markus hatte zufällig Tillas Züricher Adresse durch gemeinsame Bekannte in Erfahrung gebracht.) »Hören Sie die Klage und das Bekenntnis einer Leidensgenossin …« An dieser Stelle stutzte sie plötzlich, als hätte eine Stimme sie angerufen. Sie hob ruckhaft den Kopf. Während ihre Blicke irr ins Leere glitten, sprach sie mit einer kleinen, zirpend hohen Stimme: »Ja – Gabriel – wo bist du? Ich kann dich hören! Aber sprich doch bitte, bitte etwas deutlicher, damit ich dich besser verstehe!«
Der Kellner beobachtete sie, erstaunt und ziemlich angewidert.
Während Frau Viola das armselige Briefpapier »Au Rendezvous des Chauffeurs« mit Anklagen und Beschwörungen, Ausbrüchen des Stolzes und des grenzenlosen Jammers füllte, telefonierte Marion mit der Proskauer, um einige Tatsachen über die Unglückliche zu erfahren. »Was ist das für eine Frau?« fragte Marion. »Sie hat mir angekündigt, daß sie mich wieder besuchen wird …«
Dora wußte sofort Bescheid. »Natürlich erinnere ich mich an Friederike Markus, die vergißt man nicht, sie hat uns ja genug Sorgen gemacht. Eine Zeitlang mußten wir sie unterstützen, bis wir ihr diese Parfümerievertretung verschafften. Es sind noch keine Klagen über sie gekommen; ihre Arbeit scheint sie korrekt zu erledigen. Trotzdem bin ich pessimistisch, was ihre Zukunft betrifft. Ihr Geisteszustand wird immer bedenklicher.«
»Ist denn alles erfunden, was sie erzählt?« wollte Marion wissen. »Die ganze Geschichte von ihrem satanischen Gemahl Etzel und dem schönen Jüngling Gabriel?«
»Alles erfunden«, bestätigte die Proskauer, »alles erträumt. In Wirklichkeit hat sie niemanden – und das ist wohl so schlimm, daß sie sich einen Gatten ausdenkt, der sie quält, und einen Jüngling, der sie verlassen hat. Von den Dingen, die in ihrem Leben wirklich passiert sind, spricht sie nie. Sie hatte nämlich tatsächlich einen Mann – du wirst seinen Namen wahrscheinlich gehört haben: Doktor Max Markus, Rechtsanwalt. Er war der juristische Vertreter einer linkspolitischen Gruppe in Berlin, und dann kam er ins Konzentrationslager, und dort soll er sich umgebracht haben.« Dora Proskauer schwieg; am anderen Ende der Leitung ließ Marion einen kleinen Laut der Bestürztheit und der Trauer hören.
Marions Tage in Paris waren erfüllt von Sorge um die eigene Zukunft und von Anstrengungen, die sie für die Zukunft anderer unternahm. Nicht alles, was man versuchte und anzettelte, wollte geraten. Ilse Ill zum Beispiel kam verzerrt vor Enttäuschung von ihrem Rendezvous mit dem Theaterdirektor