Weiter war die gotische Bildhauerkunst durch die kirchliche Gebundenheit ihres Programms von der schönsten aller plastischen Aufgaben, der Darstellung des nackten Menschenleibes, ein für allemal geschieden. (Die seltenen Ausnahmen, so u. a. einmal das erste Menschenpaar oder die kleinen Figürchen in der Auferstehung des Fleisches zum jüngsten Gericht, kommen dagegen nicht in Betracht.) Den Köpfen fehlt nicht die Einsicht in das Organische; der Knochenbau der Stirn, die fleischigen Weichteile werden in großen breiten Zügen charakterisiert, die Augen sind selbst nach Verlust der Bemalung voll Leben, selbst die Hände gelingen zuweilen vortrefflich. Das Hauptobjekt der Darstellung ist aber immer die Gewandung, und hierin ist der Fortschritt der Zeiten besonders augenfällig. Noch am Anfang des 12. Jahrhunderts war nur die Gewandmasse im Ganzen roh angelegt und das Detail der Falten in schematischen Furchen eingegraben worden. Hundert Jahre später ist die Ausdrucksweise hochplastisch; durch kühne Unterschneidungen werden starke Schatten hervorgerufen; mit sicherer Berechnung wird auf Fernwirkung gearbeitet. Die Gewandung vorzüglich hilft dazu, den engen Kreis der möglichen Körpermotive zu erweitern. Durch sie werden Charaktere geschildert, wird Stimmung gemacht. Es gehörte strenge Wahrheitsliebe dazu, um dies Mittel nicht zu missbrauchen. Wie nahe die Gefahr lag, den Körper zu einem bloßen Kleidergestell zu machen, hat die nachklassische Zeit auf Schritt und Tritt erwiesen. Zweifellos hat es hochbegabter Künstler bedurft, um die Gesetze des monumentalen Stils in vorbildlichen Typen festzustellen. Aber es lag ihnen fern, als Individuen aus der Masse hervorzutreten. Sie sollten und wollten nur einer Durchschnittsempfindung dienen.
Ein vergleichsweise schmaler, an sich immer noch sehr imponierender Nebenstrom monumentaler Plastik wurde nach Deutschland geleitet, welches Land das einzige ist, das neben Frankreich mit Ehren genannt werden darf. Die Blütezeit fällt in dieselben Jahre, die wir oben für Frankreich genannt haben, d. i. dasselbe Jahrhundert von 1220–1270. Der Unterschied ist der, dass sie scheinbar ohne Vorbereitung ist. Für mehrere der besten deutschen Meister des 13. Jahrhunderts hat die Forschung es bereits klargestellt, dass sie ihre Schulung in Frankreich empfangen haben. Ihre Kunst ist im Schulsinne eine Abzweigung der französischen, doch eben nur in dem, was schulmäßig erlernt werden kann. Im Übrigen sind sie unabhängige Künstlerpersönlichkeiten, mehrere von ihnen – wie der Straßburger, der Bamberger, der Naumburger – den besten Franzosen in der Begabung nichts nachgebend, im Charakter individueller als diese. Schulung kann nur durch die auf das gleiche Ziel gerichtete Anstrengung vieler erzeugt werden, das Individuum braucht freien Raum. In Deutschland war, bei unendlich lockerer stehendem Anbau, dieser noch zu finden.
Indessen ist durch die französische Einströmung noch nicht alles erklärt. Schon bevor sie kam, war in Obersachsen durch glückliche ahnende Erfassung entfernter Nachklänge der Antike, wie byzantinische Elfenbeine sie darboten, der Sinn für Reinheit und Größe der Form erwacht. Dazu brachte die französische Anregung das Element des Monumentalen. So entstanden in hoher idealer Stimmung die herrlichen Skulpturen in Freiberg und Wechselburg. Daneben lebte, eigentlichst sächsisch, jener tüchtige Wirklichkeitssinn wieder auf, der sich einst in kindlichem Ungestüm an der Hildesheimer Domtür geäußert hatte. Ihm verdanken wir die Fürstenbilder des Naumburger Domes, eine großartig naive Synthese des monumentalen und des realistischen Stils, der einen jener Höhepunkte bezeichnet, auf denen zu verweilen der Kunst selten gegeben ist. Die Naumburger Bildwerke zeigen, was die Plastik leisten konnte, wenn die Architektur, nachdem sie ihr den Geist des Monumentalen eingeflößt, zur Freiheit sie entließ. In Wirklichkeit zog sie die Zügel nur noch fester an.
Das 14. Jahrhundert wurde auch in Deutschland eine Zeit der Massenproduktion. Überschwängliche Programme zum Schmuck der Portale und Strebepfeiler wurden entworfen und kamen sie auch nur unvollständig zur Ausführung, so überstiegen sie auch so die vorhandenen Kräfte. Die Kunst verflachte zur handwerklichen Routine. Ein Element des Fortschritts lag nur in der Grabplastik, die den Sinn für individualisierende Charakteristik langsam schärfte. Daneben bestand als zweite Hauptgattung die den Holzschnitzern zufallende Altarplastik. Ihre Blütezeit kam jedoch erst später.
Nach Ablauf des 14. Jahrhunderts ist überall in Europa der künstlerische Geist des Mittelalters am Ende seiner Zeugungskraft angelangt. Die Kraft zur Verjüngung ist aber nicht überall die gleiche. Auf den Verlauf und die Charakterbildung der mittelalterlichen Kunst hatten Deutschland und Frankreich den am meisten bestimmenden Einfluss gehabt; der werdenden Kunst der Neuzeit trugen die Niederlande und Italien die Fackel voraus.
Die Bildkunst hatte mit der Darstellung einer idealen Welt begonnen, die mit der wirklichen weder in der Form noch im Inhalt zusammenhing, deren Sinn und Bedeutung dem Volk nur langsam sich erschloss. Der Zusammenhang der Kunst mit dem praktischen Leben wird durch das Kunstgewerbe dargestellt. Es hat sich in allen Epochen des Mittelalters größter Wertschätzung