Laura im Netz. Horst Schwarz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Horst Schwarz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742754486
Скачать книгу
Nase, wenn der Pulli allzu sehr nach Bauernhof roch.

      »Es ist wirklich alles zum Kotzen«, murrte Laura, während der Bus mit einem leichten Ruck anhielt.

      »Bis morgen!«, rief sie dem Fahrer zu, warf ihren Rucksack auf die rechte Schulter und sprang aus der offenen Tür.

      Der Fahrer brummte noch ein »Mach´s gut« hinterher, aber Laura hörte es schon nicht mehr.

      Auf den wenigen Metern von der Haltestelle bis zum Haus malte sie sich schon aus, wie ihre Mutter mit Kopf-, Rücken- oder anderen Schmerzen in der Küche hockte und mal wieder kein warmes Mittagessen zustande gebracht hatte.

       2

      »Da bist du ja endlich!«, wurde Laura mit mürrischem Ton empfangen, kaum dass sie die alte Holztür mit einem kräftigen Ruck aufgedrückt hatte. »Bernd ist heute nach Schwabach gefahren, irgendwas besorgen. Der hätte mich ja auch mal mitnehmen können, der Vollpfosten. Ich wäre froh, mal aus diesem Nest herauszukommen. Du bist ja jeden Tag in Ansbach, und ich hock’ hier rum und verblöde. Im Fernseher gehen auch nur drei Programme. Das ist doch kein Leben.«

      Laura kannte diesen Zustand. Erst schimpfte sie auf Bernd, dann auf ihre Tochter, die es ja so guthatte und jeden Tag in die Stadt fahren durfte. Wenn die Schimpfkanonade, die meist eine halbe Stunde dauerte, vorbei war, fing sie an zu heulen, schluchzte, dass sie sich bald im Stall aufhängen werde, weil keiner sie liebte, noch nicht einmal ihr eigenes Kind, für das sie doch alles tue.

      Laura ertrug das Gezeter schon seit fast fünfzehn Jahren und wusste, dass es besser war, gar nicht darauf zu antworten. »Gibt’s was zu essen?« fragte Laura so nebenher.

      Jetzt ging es aber erst richtig los: »Essen?« klagte ihre Mutter in bitterem Ton, »Bernd ist in der Stadt, der wird dort was essen, und du lässt sowieso immer die Hälfte stehen. Also für wen und warum soll ich kochen?«

      Es war jeden Tag die gleiche Leier. Laura öffnete den Kühlschrank. Aber der bot auch nur einen traurigen Anblick. Laura seufzte.

      »Ja, da kannst du meckern, du Ziege«, fing sie wieder an, »wann soll ich denn einkaufen? Ich komme ja hier nicht weg. Mich nimmt ja keiner mit.« Und nach einer kleinen Pause seufzte sie in weinerlichem Ton: »Ach Kind, ich glaube, wir ziehen doch hier weg. Muss mal mit deinem Vater reden, dass der etwas mehr zahlt. Dann könnten wir uns in Schwabach oder Ansbach eine kleine Wohnung nehmen.«

      »Ja, ok«, war Lauras Antwort. Das Wort „Mutter“ war ihr schon lange nicht mehr über die Lippen gekommen. Wenn sie manchmal nach der Schule bei einer Freundin eingeladen war und sah, wie freundlich und partnerschaftlich Mutter und Tochter miteinander umgehen konnten, kamen ihr zuweilen die Tränen. In einer warmen Sommernacht war sie einmal in den gegenüberliegenden Pferdestall des Nachbarhofes gegangen, weil sie nicht schlafen konnte. Da hatte gerade eine Stute ihr Junges zur Welt gebracht. Liebevoll beugte sich die Stute über das Kleine und leckte ihm so lange über das nasse Fell, bis es trocken war. Als Laura dies sah, musste sie an ihre Mutter denken, die ihr immer wieder deutlich machte, dass sie ja letztlich gar nicht erwünscht wäre und ihr schon seit fünfzehn Jahren auf der Tasche liege. Laura waren in diesem Moment dicke Tränen die Wangen heruntergelaufen. In den fünfzehn Jahren ihrer Kindheit und Jugend war sie oft mit all ihren Fragen und Problemen allein gewesen.

      »Ich geh nach oben und mache meine Hausis«, sagte Laura, nahm ihren Rucksack und stampfte die schmale Holztreppe nach oben. Ihre Mutter fragte nicht einmal: »Wie geht’s in der Schule? Was hast du denn auf?« Sie interessierte sich für nichts, was ihre Tochter betraf. Nur sie stand mit all dem Elend dieser Welt alleine da. Oh, wie Laura das alles verabscheute. Diese Frau, das alte Haus, den Stallgeruch, den Bauern, das Dorf … einfach alles. Aber in drei Jahren, wenn sie volljährig sein würde, wollte sie hier abhauen, das stand hundertprozentig fest. Sie wusste, dass ihre Großeltern väterlicherseits für sie ein Sparbuch angelegt hatten, das ihr dann etwas Startgeld in ein besseres Leben ermöglichen würde.

      Laura öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Minki, die alte Hofkatze, kam ihr maunzend entgegen. Sie hatte den ganzen Vormittag auf Lauras Bett geschlafen und strich nun schnurrend um ihre Beine. »Wenigstens du freust dich, dass ich nach Hause komme«, sagte Laura, bückte sich und kraulte das struppige Fell. Als Antwort kam ein leises Maunzen, als hätte sie Laura verstanden.

      Laura schloss die Tür. Das Zimmer war kalt und muffig, obwohl die Mittagssonne dieses schönen Spätsommertages durch die fast blinden Scheiben des Fensters strahlte. Laura hatte sich ihr Zimmer, soweit dies möglich war, nach ihren Vorstellungen eingerichtet. Über dem alten Bett hing ein Poster von Magic Mike. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte sie eine Wandcollage mit verschiedenen Fotos gestaltet. Gleich daneben hing ein Wandregal mit ein paar Büchern. Laura las viel und gerne. "Fifty Shades of Grey" war natürlich ein Muss. Aber auch ein paar Schulbücher lagen notgedrungen auf dem Regal herum. Laura hatte viele Interessen. In der langen Zeit, in der sie immer wieder alleine war, hatte sie gelernt, sich selbst zu beschäftigen. Laura las nicht nur viel, sie hörte außerdem gern Musik. Im Augenblick waren Taylor Swift, Nicki Minaj und Sam Smith ihre Favoriten. Manchmal auch Fall Out Boy. Die Musik wählte sie gerne nach ihren Stimmungen.

      Unter das Fenster, das hinaus auf den Hof zeigte, hatte Laura einen Tisch gestellt, auf dem neben einem Tablet, ein wenig Schmuck, ihre Schminke, Nagellack und ein Spiegel lagen.

      Laura griff in die Jeanstasche und holte ihr Smartphone heraus. Es war neben dem Tablet ihr wichtigstes Instrument zur Außenwelt. Erfreulicherweise hatte ihr Vater die Kosten für eine Flatrate übernommen, sodass sie wenigstens diesen Luxus genießen konnte. Ohne Internet und die Möglichkeit mit Freunden jederzeit Kontakt aufnehmen zu können, wäre sie hier in dieser Einsamkeit bestimmt schon gestorben. »Wer nicht on ist«, hatte einmal ihre Freundin Simone gesagt, »nimmt nicht am Leben teil.« Und wenn Laura so darüber nachdachte, stimmte das auch. Denn im Internet pflegte sie ihre sozialen Kontakte und erfuhr wenigstens, was außerhalb der Schule und dieses trostlosen Dorfs stattfand.

       3

      Im achtzig Kilometer entfernten Nürnberg legte in diesem Augenblick Wolfgang sein Smartphone aus der Hand und lehnte sich entspannt zurück. Der Fünfundvierzigjährige hatte sich mit falschen Angaben im kostenlosen Chatforum ENAF (Everybody Needs A Friend) angemeldet. Die Idee war ihm gekommen, als er seinen 16-jährigen Sohn Maik immer wieder mit Freundinnen chatten sah.

      Wolfgang fühlte sich schon lange zu jungen Mädchen hingezogen, besonders zu den Zwölf- bis Sechszehnjährigen. Er konnte nicht sagen warum, aber sie übten auf ihn eine erotische Anziehungskraft aus, und er spürte jedes Mal eine starke Erregung, wenn er ihnen begegnete und in der U-Bahn oder im Supermarkt an der Kasse dicht neben ihnen stand. Beruflich und auch sonst hatte er nichts mit Mädchen in diesem Alter zu tun.

      Darum schaute er ihnen heimlich nach, wenn er im Sommer im Straßencafé oder im Schwimmbad saß und durch seine dunkle Sonnenbrille die Augen wandern ließ. Es wühlte ihn immer wieder aufs Neue auf, wenn er die schlanken Beine in enganliegenden Jeans oder die sportlich jungen Körper im Bikini sah und die kleinen Brüste, die sich leicht durch das T-Shirt abzeichneten oder nur von knappen Oberteilen bedeckt waren. Diese Bilder umkreisten ihn Tag und Nacht wie Satelliten die Erde.

      Niemand wusste von seinen Neigungen, durfte und sollte es auch nicht wissen. Sie lagen wie eine schwere Last auf ihm, die er ständig unter Kontrolle halten, beziehungsweise unterdrücken musste. Manchmal kam er sich vor wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde aus der Novelle des schottischen Schriftstellers Robert Louis Stevenson, in der erzählt wird, dass aus dem gutmütigen und freundlichen Arzt Dr. Jekyll in der Nacht der ungezügelte und brutale Edward Hyde wird, obwohl es sich um ein und dieselbe Person handelt. Auch in ihm, Wolfgang, dem braven Ehemann, Familienvater, Arbeitskollegen und Nachbarn, kämpften zwei unterschiedliche Persönlichkeiten. Niemand in seinem Umkreis traute ihm diese nicht normalen sexuellen Wunschvorstellungen zu.

      Das Internet und besonders die sozialen Netzwerke boten ihm nun die Möglichkeit, mit diesen, in der realen Welt unerreichbaren, Teenies in Kontakt zu treten, ohne seine wahre Identität und sein Alter preisgeben zu