Vor allem war es jedoch der Umstand, daß sich Miß Tor längst mit ungewöhnlicher Sorgfalt und Eleganz in eine leichte Trauer gekleidet hatte. Das half dem Major mit einem Male aus all seiner Schwierigkeit, und er kam dadurch zu dem Schluß, daß ihr irgendein kleines Legat zugefallen und sie deshalb stolz geworden sei.
Schon am anderen Tage, nachdem sich der Major durch diese Folgerung das Gemüt erleichtert hatte, sah er, wie er eben bei seinem Frühstück saß, eine so erstaunliche und wundervolle Erscheinung in dem kleinen Wohnstübchen der Miß Tor, daß er geraume Zeit auf seinem Sessel wie angenagelt sitzenblieb; dann stürzte er in sein Nebenkabinett und kehrte mit einem doppelröhrigen Operngucker zurück, mit dem er die Erscheinung einige Minuten lang aufs angelegentlichste betrachtete.
»Ich wette fünfzigtausend Pfund, es ist ein kleines Kind, Sir«, sagte der Major, indem er das Augenglas wieder zusammendrückte.
Das konnte der Major nicht vergessen. Er pfiff in einem fort, und seine Augen quollen so furchtbar hervor, daß sie in dem Zustande, wie sie früher waren, eigentlich als tiefliegend und eingesunken betrachtet werden konnten. Tag um Tag, zwei-, drei-, viermal in der Woche machte das Wickelkind seinen Besuch. Der Major fuhr fort, zu glotzen und zu pfeifen. Aber was er auch treiben mochte, niemand achtete seiner auf dem Prinzessinnenplatze, denn Miß Tor hatte aufgehört, an seinem Tun und Lassen Anteil zu nehmen. Sein Blau hätte sich ebensogut in Schwarz verwandeln können, ohne daß es sie in irgendeiner Weise interessiert hätte.
Die Beharrlichkeit, mit der sie den Prinzessinnenplatz verließ, um das Wickelkind und seine Wärterin zu holen, mit ihnen zu kommen, zu gehen und beständige Wache über sie zu halten – die Ausdauer, mit der sie es selbst pflegte, nährte, durch Spielen unterhielt oder durch Arien auf ihrem Klavier in Todesängste versetzte, war ganz außerordentlich. Auch befiel sie um dieselbe Zeit eine große Leidenschaft, nach einem gewissen Armband zu sehen und den Mond zu betrachten, an dem sie oftmals von ihrem Kammerfenster aus lange Beobachtungen anstellte. Nach was sie übrigens auch sehen mochte, nach Sonne, Mond, Sternen oder Armbändern – für den Major hatte sie keinen Blick mehr. Und der Major, der vor Neugierde fast starb, pfiff, glotzte und düsselte in seinem Zimmer herum, ohne der Sache auf den Grund kommen zu können.
»Gewiß und wahrhaftig, Ihr werdet das Herz meines Bruders Paul noch ganz gewinnen«, sagte eines Tages Mrs. Chick.
Miß Tor erblaßte.
»Er wird mit jedem Tage Paul ähnlicher«, fuhr Mrs. Chick fort.
Miß Tox gab darauf keine andere Erwiderung, als daß sie den kleinen Paul in ihre Arme nahm und dessen Haubenband mit ihren Liebkosungen ganz zerknitterte.
»Ich habe die Bekanntschaft seiner Mutter erst durch Euch machen sollen, meine Liebe«, sagte Miß Tor. »Hat er überhaupt Ähnlichkeit mit ihr?«
»Nicht im geringsten«, entgegnete Louisa.
»Sie war – war hübsch, glaube ich?« stotterte Miß Tor.
»Nun ja, die liebe arme Fanny war interessant«, erwiderte Mrs. Chick nach längerem Bedenken. »Gewiß interessant. Sie besaß zwar nicht jene beherrschende Überlegenheit, die man fast als eine Sache, die sich von selbst versteht, an der Gattin meines Bruders zu finden erwartete, und ebensowenig die Kraft und Lebhaftigkeit des Geistes, die ein solcher Mann braucht.«
Miß Tor seufzte tief.
»Aber sie war angenehm«, fuhr Mrs. Chick fort, »sehr angenehm. Und sie meinte es gut – ach Himmel, wie gut meinte es nicht die arme Fanny!«
»Du Engel!« rief Miß Tor dem kleinen Paul zu. »Du treues Abbild deines Papas.«
Hätte der Major wissen können, wie viele Hoffnungen und Wagnisse, welche Menge von Plänen und Spekulationen sich an dieses kleine Kind knüpften – wäre es ihm möglich gewesen, Zeuge zu sein, wie sie in ihrer buntesten Verwirrung und Unordnung die zerdrückte Haube des nichts ahnenden kleinen Paul umschwebten, so würde er sicherlich allen Grund gehabt haben, die Augen aufzureißen. Er hätte nämlich unter dem Gewimmel einige ehrgeizige, ausschließlich Miß Tor angehörige Sonnenstäubchen und Strahlen erkennen können, und dann wäre ihm wahrscheinlich klar geworden, welche Beschaffenheit es mit der scheuen Teilnahme dieser Dame an der Firma Dombey hatte.
Hätte das Kind selbst in der Nacht geweckt werden können, damit es an den Vorhängen seiner Wiege die matten Reflexe von Träumen erschaue, die andere Leute an seine Person knüpften, so wäre es sicherlich aus guten Gründen vor Angst in Krämpfe gefallen. Aber Paul schlummerte sanft, ohne Ahnung von den liebevollen Absichten der Miß Tor, von der Verwunderung des Majors, von den frühen Leiden seiner Schwester und von den ernsteren Visionen seines Vaters; konnte er ja nicht dafür, daß irgendein Teil der Erde einen Dombey oder einen Sohn barg.
Achtes Kapitel. PAULS WEITERE FORTSCHRITTE – SEIN GEDEIHEN UND SEIN CHARAKTER.
Unter den wachsamen Augen der Zeit – so ganz anderen, als die des Majors waren – ging mit Pauls Schlummern allmählich eine Veränderung hervor. Es gewann mehr und mehr Licht, immer bestimmtere und bestimmtere Träume störten ihn, und eine Menge von Gegenständen und Eindrücken umschwärmten sein Lager. Er ging aus dem Alter der hilflosen Kindheit in das der regsameren über und wurde ein plaudernder, umhergehender, neugieriger Dombey.
Nach dem Sturz der Verbannung der Richards wurde die Kinderstube nur provisorisch versorgt, wie es zuweilen auch bei Ministerien zu sein pflegt, wenn sich kein individueller Atlas finden läßt, um sie zu tragen. Die provisorisch Betrauten waren natürlich Mrs. Chick und Miß Tor, die sich ihren Obliegenheiten mit so erstaunlichem Eifer hingaben, daß Major Bagstok mit jedem Tage neu an sein Vergessensein erinnert wurde, während Mr. Chick, der häuslichen Oberaufsicht beraubt, sich in die lustige Welt warf, in Klubs und Kaffeehäusern speiste, bei drei verschiedenen Gelegenheiten nach Tabak roch, allein ins Theater ging und – um es kurz zu sagen – sich jeder sozialen Pflicht und jeder moralischen Verbindlichkeit – wie ihm einmal von Mrs. Chick bedeutet wurde – als enthoben erachtete.
Aber trotz der früheren guten Aussichten und trotz aller dieser Wachsamkeit und Sorgfalt wollte der kleine Paul doch nicht recht gedeihen. Von Natur aus zart, nahm er nach der Entfernung seiner Amme sehr ab, und es hatte geraume Zeit den Anschein, als warte er nur auf eine Gelegenheit, seinen neuen Wärterinnen aus den Händen zu gleiten und seine verlorene Mutter zu suchen. Den gefährlichen Boden auf der Rennjagd zu dem reiferen Alter fand er sehr schwer durchzumachen, und er wurde im Laufe derselben von allen erdenklichen Hemmnissen hart bedrängt. Jeder Zahn wurde für ihn zu einer halsbrechenden Verzäunung, jeder Masernflecken zu einer steinernen Mauer. Jeder Anfall von Keuchhusten warf ihn aufs Krankenlager, und er mußte ein ganzes Feld kleiner Krankheiten, die sich auf den Fersen folgten, um ihn ja nicht zum Aufstehen kommen zu lassen, überqueren. Ja sogar die Hühner wurden wütend, wenn sie etwas mit der Kinderkrankheit zu tun hatten, der sie ihren Namen liehen, und quälten den armen Paul wie Tigerkatzen.
Vielleicht hatte auch die Kälte bei Pauls Taufe irgendeinen empfindsamen Teil seines Wesens berührt, so daß er sich in dem kalten Schatten seines Vaters nicht erholen konnte; so viel ist gewiß, daß er von diesem Tage an ein unglückliches Kind war. Mrs. Wickham sagte oft, sie habe nie ein so liebes Geschöpf so schwer heimgesucht gesehen.
Mrs. Wickham war die Frau eines Kellners – was etwa gleichbedeutend sein dürfte mit der Witwe eines jeden andern Mannes – und ihre Bewerbung