Am Ende ergibt alles einen Sinn, versprochen.
Wirst du bei mir bleiben? Selbst wenn ich gehen muss?
Bitte, versteh mich nicht falsch, ich möchte dich keineswegs verlassen, mir wurde diese Wahl genommen. - Ja, du hast recht, die Sterne warten eine Unendlichkeit lange auf mich, sie brauchen mich nicht, doch ich brauche sie.
Wenn du nicht bei mir bleiben kannst, wirst du dann wenigstens auf mich warten? Selbst wenn mir keine Zeit mehr bleibt?
War es Hass?
Neid? Zorn? Liebe? Gier? Eifersucht? Oder war es vielleicht eine rationale, vernünftige und nachvollziehbare Entscheidung? Lag vielleicht sogar ein Sinn dahinter, blind vor Dunkelheit zu rennen, ohne gehetzt oder verfolgt zu werden, obwohl man unweigerlich immer und immer wieder stürzte? Machte es Sinn, sich die Nägel beim Versuch etwas zu vergraben abzubrechen, das einem nicht gehörte und das man eigentlich nie haben wollte? Und war es das wert, sich dafür die Haut von den Händen zu schaben, sich unbeabsichtigt Dreck in die verheulten Augen zu reiben und keine Luft mehr in dem einsamen Stollen zu bekommen? Den Rückweg kaum noch finden zu können? Allein, verloren zu sein?
Ganz gleich warum es geschehen war, es war passiert. In einer Welt, die nicht jedem zugänglich war, in einem versteckten Stollen, in einem zerrissenen Leintuch eingewickelt, nur eine Elle tief vergraben, zerbrochen, lag es nun.
Und die Erde bebte.
Der Traummacher
war müde, auf eine Art, die durch Schlaf nicht wieder weggeht. Er war zu müde zum Schreiben, zu müde zum Malen. Sein Papier vergilbte unberührt, die Tinte wurde zäh, vertrocknete. Staub sammelte sich auf seinen Bücherregalen. Seine Pflanzen starben. Und war das Licht etwa trüber geworden? Er blickte aus dem Fenster. Kalte Nebelschwaden umhüllten die Insel und verkündeten den Herbstbeginn. Der letzte Winter war so lange her gewesen, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte.
Er legte sich schlafen, etwas Anderes konnte er nicht tun, aber die Müdigkeit lastete noch sehr, sehr lange auf ihm.
Endlich! Hier war sie!
Wer musste denn auch ein verdammtes Schloss in der Größe eines Dorfes und mit der Logik eines Irrgartens erbauen? Und warum musste sich Amaryllis ausgerechnet im obersten Stock davon verstecken, während es dabei war in sich zusammen zu fallen? Zuerst war Morin sprachlos, die Situation hatte etwas Unwirkliches an sich. Während der Boden vibrierte, Staub von der Decke rieselte und es aus jeder Ecke des Schlosses knarrte, saß sie hier, allein, seelenruhig wie er sie kannte, vor einem Schachbrett, auf dem nur ein gläserner König stand. Amarylliswar so gebannt von der Figur, dass Morin selbst ihr einen Moment seiner Aufmerksamkeit schenkte, doch dann erinnerte ihn das Haus lautstark an den Grund seines Erscheinens und er schrie: „Komm! Wir müssen hier weg!“
Amaryllis sah auf, ihr Blick war träge, irgendwie müde.
„Bring dich selbst in Sicherheit“, sagte sie. Kurz überlegte Morin tatsächlich, ob er dieser Aufforderung nachkommen sollte, aber er konnte sie doch nicht hier sterben lassen.
„Aber das Haus stürzt ein!“, stellte Morin fest. Es war lächerlich, das überhaupt zu erwähnen, aber etwas Anderes fiel ihm nicht ein.
Amaryllis blieb ruhig: „Ich weiß, deshalb solltest du gehen.“
Unter zumutbaren Umständen hätte Morin andächtig geschwiegen, sie in den Arm genommen und sich die richtigen Worte zurechtgelegt, aber dafür blieb keine Zeit. Er schrie: „Verdammt, willst hier krepieren?“
Er packte sie am Arm und ihm fiel auf, dass er sie noch nie zuvor berührt hatte. Es war befremdlich und falsch und als er ihren verletzten Blick sah, ließ er es bleiben.
„Nicht ich sterbe, weil das Haus einstürzt. Das Haus stürzt ein, weil ich sterbe“, erklärte sie.
„Dann... dann musst du erst recht... hier raus“, Morin versagte die Stimme.
„Kein Arzt kann mir helfen, das weißt du. Ich bin nicht krank oder verletzt. Das bist du.“
„Nein!“, wollte er sagen, aber das Wort blieb ihm im Hals stecken. Ein Donner ging durch die Flure, als wäre irgendwo eine Wand als Ganzes eingestürzt.
Amaryllis lächelte träge, stand auf und legte ihm die Arme auf die Schultern. Diesmal war die Berührung weniger befremdlich. „Das mache ich doch gern! Sieh aus dem Fenster. Da, was siehst du?“, fragte sie.
Morin kam der Aufforderung zögernd nach. War dafür noch Zeit? Sie mussten doch hier raus. „Das Meer...“, begann er unsicher, „Den Wald... Den Strand. Wolken. Blumen... Was soll mir das sagen?“
Sie ließ die Frage unbeantwortet. „Was ist dort? Das da auf der Wiese vor dem Haus?“
„Ich weiß nicht... Ist das ein Hund? Ist das-“
„-dein Hund, ja.“
„Nein, mein Hund ist tot.“
„Nicht hier“, meinte sie, „Morin, sag, weißt du wo du bist? Wie bist du hierhergekommen?“
Wie war er hierhergekommen? So wie jedes Mal, dachte er, aber wie genau war das? Er konnte sich daran erinnern einer Straße gefolgt zu sein, er war gegangen und irgendwann war kein Asphalt mehr unter seinen Füßen gewesen, sondern loser Sand.
Die Zeit drängte. Der herab rieselnde Staub brannte bereits in der Lunge. Das Spielfeld des Schachbretts war nicht mehr auszumachen, eine Erhebung deutete an, wo der König stehen musste. Die Decke war rissig geworden, während sie geredet hatten. Irgendwo zersplitterte Glas. Aber Morin wartete mit mühsam erzwungener Geduld auf Amaryllis Ausführung.
„Das alles“, sie wies nach draußen, „das ist kein Strand, kein Wald, kein Meer - das bist du! Und du bist krank, sehr sogar und um nicht als Ganzes zu verenden, musst du einen Teil von dir töten. Das ist, als müsstest du einen abgestorbenen Teil deines Körpers abschneiden. Jetzt lauf und lass mich zurück! Ich werde es dir verzeihen!“
Obwohl er es nicht verstand, machte es doch Sinn. Er ging unsicher zur Tür. Ja, er war es, der sie geschaffen hatte. Oder? Aber wie hätte er das vollbracht? Er wusste nur, dass sie nur hier existieren konnte. Hinauszugehen würde sie ebenso beenden wie hier zu bleiben.
Er blieb in der Tür stehen und versprach: „Sobald ich es schaffe, komme ich zurück und errichte das alles hier neu!“
Amaryllis lächelte müde, wich seinem Blick aus. Morin rannte, hörte hinter sich alle Saiten des Klaviers mit einem dumpfen Schlag reißen, aber er rannte weiter, bis er draußen war. Seine Hündin kam träge schwänzelnd auf ihn zu, schreckte aber vor dem lärmenden Haus zurück.
„Komm, Mädchen! Wir gehen zum Strand!“, rief er ihr zu und rannte an ihr vorbei.
Er spürte Amaryllis Blick auf sich lasten, aber er drehte sich nicht um. Er ging Seite an Seite mit seiner Hündin durch den Wald zum Meer, der Abendsonne entgegen, die niemals untergehen würde.
Ein gutes Gewissen
Die alten Zimmer liegen meist im dunklen. Auch im Sommer bleiben die Wände kalt. Niemand macht hier mehr Licht.
Die Bettdecke hebt und senkt sich und aus irgendeinem unverständlichen Grund ist es seinen Angehörigen wichtig, dass sie es weiter tut. Sonst ist alles egal. Ob es finster ist, kalt, still. Einsam. Nur die Decke soll sich heben und wieder senken und heben.
Das war nicht sein Bett.
Mit diesem Gedanken erwachte Morin. Wäre es wenigstens gemütlich gewesen, wäre er noch etwas liegen geblieben, aber seine Füße standen über den Rand, die Decke war zu kurz und er konnte sich kaum richtig umdrehen.
Ein Kinderbett?
Zumindest hätte es zum Rest der Einrichtung gepasst. Eine gelb gestrichene Wand, Wandschränke mit Stickern beklebt, ein ekelhafter hellblauer Teppichboden - Resteverwertung, dachte er.
Auf dem Teppichboden fiel es ihm leicht, geräuschlos bis zur Tür zu laufen. Dahinter lag ein