In der Redaktion hatte der Winter allerdings einige unangenehme Nebeneffekte. Es war ständig zu warm und die Böden waren rutschig, weil niemand bereit war, seine Schuhe abzuputzen, bevor sie herein kamen. Außerdem, je nach Wetterlage, konnten sich wichtige Angelegenheiten empfindlich verschieben, was wiederum zu Chaos führte. Karla war deshalb schlecht gelaunt und hinzukam, dass der Monat durch die Feiertage kürzer war und die Deadline immer viel zu früh und scheinbar jedes Jahr „völlig überraschend“ kam.
Das einzig Gute daran, dass eine Dachgeschosswohnung im Winter spürbar kühler war als die Wohnung darunter war die vielleicht beste Art sich aufzuwärmen: im Bett. Linnea konnte Stunden darin verbringen – zur Not auch allein. Sie schnappte sich einfach ein gutes Buch und versank in eine andere Welt, bis Albin sie in die Wirklichkeit zurückholte. Es war unglaublich, wie viele Bücher sie gelesen hatte seit sie mit der Uni begonnen hatte – und wie viele sie schon hätte lesen können, wenn sie früher damit angefangen hätte. Ein gutes Buch konnte einen ganzen Tag retten, in eine andere Welt entführen und einen zur Ruhe kommen lassen.
„Ihr habt beide überreagiert.“ Agneta reichte ihr ein Glas Punsch und setzte sich dann in ihren Armsessel. Linnea seufzte und nahm einen Schluck. Es fühlte sich gut an, wie es warm ihre Speiseröhre hinunterlief. „Ich weiß...“, gab sie bereitwillig zu. „Aber er kann so furchtbar kleinlich sein.“ „Das kannst du auch.“ „Deshalb haben wir uns ja wieder mal gestritten.“ Agneta zog ihre Beine an und lehnte sich zurück. „Und ihr werdet euch wieder versöhnen. Das ist so euer Ding.“ Schon wieder dieses Wort. Was war das eigentlich? Es war ja wahrscheinlich nicht einmal ein Wort, es war bestimmt ein „Ding“. „Ich hätte gerne ein anderes ‚Ding’“, verzog Linnea den Mund und Agneta lächelte sanft. „Das werdet ihr noch finden. Ihr beide ward so jung, als ihr zusammen gekommen seid und ihr seid es immer noch. So was braucht Zeit.“ „Und wenn wir es nicht finden?“ Sie stellte ihre Tasse auf den Couchtisch. „So wie du und Fader?“ „Dann hoffe ich, dass ihr klug genug seid, es rechtzeitig zu beenden.“ Linnea senkte den Blick. Es war das erste Mal, dass jemand ihr für ihre Beziehung eine andere Option geboten hatte. Und dafür war sie ihrer Mutter irgendwie dankbar, weil sie sich endlich einmal verstanden fühlte.
„Übrigens habe ich etwas, dass dich vielleicht ein bisschen aufheitern könnte.“ Agneta nahm sich einen Keks. „Deine Tante Edda hat letzte Woche angerufen und sie hat mich und dich wieder einmal nach Kanada eingeladen.“ „Wieso tut sie das nur jedes Jahr?“, seufzte Linnea, die noch nicht ganz bereit dafür war, das Thema zu wechseln. „Sie weiß doch, dass wir es wieder nicht schaffen werden.“ „Das hab ich ihr auch gesagt“, fuhr Agneta fort. Sie war versessen darauf, ihre Tochter abzulenken, weil sie sich in ihren Augen ein bisschen lächerlich benahm. Immerhin war das doch wieder nur eine Kleinigkeit und alle wussten das. Albin und Linnea brachte nichts auseinander. Aber sie wusste auch, dass sie Verständnis zeigen musste, weil auch sie das selbst gerne gehabt hätte, als die Probleme mit ihrem Mann anfingen. Und vielleicht war die Idee letztendlich gar nicht so schlecht und genau das, was die beiden brauchten, um ihre Beziehung endlich ein für alle Mal abzuklären. „Ich hab gesagt, dass ich zu viel Arbeit habe und du und Albin in Lappland sein werdet.“ „Eigentlich schade...“, seufzte Linnea wieder. Sie war traurig und wütend, zu seufzen erschien ihr die einzige richtige Reaktion zu allem. Außerdem hatte sie im Moment keinen größeren Wunsch, als endlich diesem ganzen Chaos zu entkommen, um sich wieder über alles klar werden zu können. Nur: So genau würde sie das nicht aussprechen, weil sie glaubte, Agnetas Reaktion darauf zu kennen. Und darauf konnte sie im Moment gut verzichten. „Ich würde gern einmal sehen, wo sie wohnt und meine Cousine und meinen Cousin kennen lernen.“ „Das hat sie auch gesagt“, tat Agneta begeistert und Linnea wusste sofort, dass sie da bereits irgendwas ausgeheckt hatte. „Und dann hab ich mir gestern gedacht...“ Sie stand auf und ging in den Flur hinaus. „Da du ja nun nicht nach Lappland fährst und ich dich hier nicht Trübsal blasend gebrauchen kann...“ Sie hielt Linnea ein Kuvert hin, das diese etwas verwundert annahm. „Sieh es als mein Weihnachtsgeschenk – du hast es verdient.“
Es war ein Ticket nach Halifax, Kanada. Linnea sah auf. „Mamma...?“ „Ich denke“, erwiderte ihre Mutter, „was du jetzt am Dringendsten brauchst ist ein bisschen Abstand. Von Albin und von dir hier in Stockholm. Edda freut sich schon riesig auf dich und wie ich meine Schwester kenne, hat sie ein nonstop Urlaubsprogramm. Das bringt dich auf andere Gedanken und gibt euch beiden Zeit abzukühlen.“ „Ich weiß nicht, was ich sagen soll...“ Das war bei weitem das Liebste, was ihre Mutter seit langem für jemand anderen als sich selbst getan hatte. „Sag einfach danke.“ Es war eigentlich genau das, was Linnea jetzt brauchte: Zeit für sich. „Tack, Mamma.“
18
„Alle mal herhören!“ Haydn rappelte sich hoch, kletterte auf die Bank und schlug mit dem Feuerzeug gegen seine Bierflasche. „Hey!“ Er musste schreien, um die Musik zu übertönen. Da sie aber nicht hören wollten, pfiff er einmal laut durch die Finger. „Ah, verdammt!“, stöhnte Ian, der direkt unter ihm saß. „Sorry, hon! - Also, ich... wollte eigentlich nur sagen...“ „Dass du stockbetrunken bist?“ „Ja, das auch.“ Er schwankte und Ian packte ihn um den Knöchel – was ihn nicht daran gehindert hätte, von der Bank zu fallen. „Aber vor allem wollte ich sagen, dass... ich heilfroh bin, dass wir diese Tour endlich hinter uns haben... und ganze vier Wochen lang normale Menschen sein können.“ Allgemeines Gröhlen. „Thanks to our dearest Freddy and Anthony, who licked some butts to get us that long a holiday!“ Dabei prostete er seinen Managern zu, die ihm daraufhin den Mittelfinger zeigten. „Später, Boys“, winkte Haydn grinsend ab. „Wenn die anderen weg sind. – Jedenfalls: Ich... freu mich, dass ihr heute Abend alle hier seid und wünsche... euch gleich mal frohe Feiertage und dass ich keinen von euch vor dem neuen Jahr wiedersehen muss!“ „Hear hear!“ Man hob Gläser und Flaschen und prostete sich zu. Haydn ließ sich wieder ächzend auf die Bank fallen und legte seinen Kopf in den Schoß eines Mädchens namens Madison – Amerikanerin, brünette Locken, sexy tiefe Stimme, großer Fan. „Wenn du mir mein sauteures Kleid voll kotzt“, protestierte diese und schubste ihn von sich, „wirst du dein Gesicht nie mehr auf Werbekampagnen zeigen können!“ Haydn grinste und trank seine Flasche leer. „Keine Sorge, ich werde bald nach Hause gehen. Es ist immer schöner, in seine eigene Toilette zu kotzen.“ Dann zündete er sich eine Zigarette an, packte Jean-Marie an der Hand und zog ihn auf die Tanzfläche. „Beweg deinen süßen kleinen Arsch, Baby!“
Während die beiden ihre kleine Show abzogen, war der Rest der Gesellschaft auch nicht untätig. Da es ja nur der halbe Spaß war unter sich zu feiern – das hatten sie während der Tour oft genug getan – hatten sie nur eine Ecke des Clubs reservieren lassen und erfreuten sich nun am restlichen Publikum, vor allem wenn es weiblich war. Es war düster und verraucht, gedimmte Lampen warfen ihre Schatten und die Musik war zeitweise so laut, als wolle man nicht, dass sich jemand unterhalten könnte. Haydn hatte sich mittlerweile Madison – in hautengem Leder und Mörderheels - gekrallt und wenn man Sex haben konnte, ohne tatsächlich Sex zu haben, dann gaben die beiden gerade eine beeindruckende Vorstellung davon. Jeder war noch aufgeputscht von der Müdigkeit und genauso high von den letzten Wochen und Monaten und man vermisste einerseits den Rush, auf Tour zu sein, war andererseits aber froh, endlich wieder zu Hause zu sein.
Es war nach Mitternacht und alle lagen schon mehr übereinander, als dass sie saßen. Es wurde gelacht und blöd gescherzt und vor allem die Roadies hatten schon den einen oder anderen Zacken in der Krone und knutschten ausgiebig mit unterschiedlichen Mädchen. Haydn und Lafayette saßen in einer Ecke, die Beine auf dem Tisch, die Köpfe aneinander gelegt und sangen „Stairway to Heaven“, was in diesem Moment nicht deplatzierter hätte sein können und Madison und Layla trugen Weihnachtsmannmützen und tanzten auf dem Tisch. Auf der Tanzfläche waren bereits mehr nackte Oberkörper als Hemden auf dem Boden lagen und auf den Stiegenaufgängen durfte man nicht mehr allzu prüde sein,