Gracians Orakel der Weltklugheit. Balthasar Gracian. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Balthasar Gracian
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754184097
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      Die Einbildungskraft zügeln,

      indem man bald sie zurechtweist, bald ihr nachhilft: denn sie vermag Alles über unser Glück, und sogar unser Verstand erhält Berichtigung von ihr. Sie kann eine tyrannische Gewalt erlangen und begnügt sich nicht mit müßiger Beschauung, sondern wird thätig, bemächtigt sich sogar oft unsers ganzen Daseyns, welches sie mit Lust oder Traurigkeit erfüllt, je nachdem die Thorheit ist, auf die sie verfiel: denn sie macht uns mit uns selbst zufrieden oder unzufrieden, spiegelt Einigen beständige Leiden vor und wird der häusliche Henker dieser Thoren: Andern zeigt sie nichts als Seeligkeiten und Glücksfälle, unter lustigem Schwindeln des Kopfs. Alles dieses vermag sie, wenn nicht die vernünftige Obhut unsrer selbst ihr den Zaum anlegt.

      Winke zu verstehen wissen.

      Einst war es die Kunst aller Künste, reden zu können: jetzt reicht das nicht aus; errathen muß man können, vorzüglich wo es auf Zerstörung unsrer Täuschung abgesehen ist. Der kann nicht sehr verständig seyn, der nicht leicht versteht. Es giebt hingegen auch Schatzgräber der Herzen und Luchse der Absichten. Grade die Wahrheiten, an welchen uns am meisten gelegen, werden stets nur halb ausgesprochen; allein der Aufmerksame fasse sie im vollen Verstande auf. Bei allem Erwünschten ziehe er seinen Glauben am Zügel zurück, aber gebe ihm den Sporn bei allem Verhaßten.

      Die Daumschraube eines Jeden finden.

      Dies ist die Kunst, den Willen Andrer in Bewegung zu setzen. Es gehört mehr Geschick als Festigkeit dazu. Man muß wissen, wo einem Jeden beizukommen sei. Es giebt keinen Willen, der nicht einen eigentümlichen Hang hätte, welcher nach der Mannigfaltigkeit des Geschmacks verschieden ist. Alle sind Götzendiener, Einige der Ehre, Andre des Interesses, die Meisten des Vergnügens. Der Kunstgriff besteht darin, daß man diesen Götzen eines Jeden kenne, um mittelst desselben ihn zu bestimmen. Weiß man, welches für Jeden der wirksame Anstoß sei, so ist es als hätte man den Schlüssel zu seinem Willen. Man muß nun auf die allererste Springfeder, oder das primum inodils in ihm, zurückgehen, welches aber nicht etwa das Höchste seiner Natur, sondern meistens das Niedrigste ist: denn es giebt mehr schlecht- als wohlgeordnete Gemüther in der Welt. Jetzt muß man zuvörderst sein Gemüth bearbeiten, dann ihm durch ein Wort den Anstoß geben, endlich mit seiner Lieblingsneigung den Hauptangriff machen; so wird unfehlbar sein freier Wille schachmatt.

      Das Intensive höher als das Extensive schätzen.

      Die Vollkommenheit besteht nicht in der Quantität, sondern in der Qualität. Alles Vortreffliche ist stets wenig und selten: die Menge und Masse einer Sache macht sie geringgeschätzt. Sogar unter den Menschen sind die Riesen meistens die eigentlichen Zwerge. Einige schätzen die Bücher nach ihrer Dicke; als ob sie geschrieben wären, die Arme, nicht die Köpfe daran zu üben. Das Extensive allein führt nie über die Mittelmäßigkeit hinaus, und es ist das Leiden der universellen Köpfe, daß sie, um in Allem zu Hause zu seyn, es nirgends sind. Hingegen ist es das Intensive, woraus die Vortrefflichkeit entspringt, und zwar eine heroische, wenn in erhabener Gattung.

      In nichts gemein:

      Erstlich, nicht im Geschmack. O des großen Weisen, den es niederschlug, daß seine Sache der Menge gefiel!* Gemeiner Beifall in Fülle giebt dem Verständigen kein Genügen. Dagegen sind manche solche Kamäleone der Popularität, daß sie ihren Genuß nicht in den sanften Anhauch Apollo's, sondern in den Athem des großen Haufens setzen. – Zweitens, nicht im Verstande: man finde kein Genügen an den Wundern des Pöbels, dessen Unwissenheit ihn nicht über das Erstaunen hinauskommen läßt: während die allgemeine Dummheit bewundert, deckt der Verstand des Einzelnen den Trug auf.

      * Ein griechischer Redner fragte, als das Volk ihm Beifall zurief, betroffen seine Freunde: »Habe ich etwas Verkehrtes gesagt?«

      Ein rechtschaffener Mann seyn:

      stets steht dieser auf der Seite der Wahrheit, mit solcher Festigkeit des Vorsatzes, daß weder die Leidenschaft des großen Haufens, noch die Gewalt des Despoten ihn jemals dahin bringen, die Gränze des Rechts zu übertreten. Allein wer ist dieser Phönix der Gerechtigkeit? Wohl wenige ächte Anhänger hat die Rechtschaffenheit. Zwar rühmen sie Viele, jedoch nicht für ihr Haus. Andre folgen ihr bis zum Punkt der Gefahr: dann aber verleugnen sie die Falschen, verhehlen sie die Politischen. Denn sie kennt keine Rücksicht, sei es, daß sie mit der Freundschaft, mit der Macht, oder mit dem eigenen Interesse sich feindlich begegnete: hier nun liegt die Gefahr abtrünnig zu werden. Jetzt abstrahiren, mit scheinbarer Metaphysik, die Schlauen von ihr, um nicht der Absicht der Höheren oder der Staatsräson in den Weg zu treten. Jedoch der beharrliche Mann hält jede Verstellung für eine Art Verrath: er setzt seinen Werth mehr in seine unerschütterliche Festigkeit, als in seine Klugheit. Stets ist er zu finden, wo die Wahrheit zu finden ist: und fällt er von einer Partei ab, so ist es nicht aus Wankelmuth von seiner, sondern von ihrer Seite, indem sie zuvor von der Sache der Wahrheit abgefallen war.

      30.

      Sich nicht zu Beschäftigungen bekennen, die in schlechtem Ansehen stehen,

      noch weniger zu Schimären, wodurch man sich eher in Verachtung, als in Ansehen bringt. Es giebt mancherlei grillenhafte Sekten, von welchen allen der kluge Mann sich fern hält. Aber es giebt Leute von wunderlichem Geschmack, welche immer nach dem greifen, was die Weisen verworfen haben, und dann in diesen Seltsamkeiten sich gar sehr gefallen. Dadurch werden sie zwar allgemein bekannt, doch mehr als Gegenstand des Lachens, als des Ruhms. Sogar zur Weisheit wird der umsichtige Mann sich nicht auf eine hervorstechende Weise bekennen, viel weniger zu Dingen, welche ihre Anhänger lächerlich machen. Sie werden hier nicht aufgezählt, weil die allgemeine Verachtung sie genugsam bezeichnet hat.

      Die Glücklichen und Unglücklichen kennen,

      um sich zu jenen zu halten und diese zu fliehen. Das Unglück ist meistentheils Strafe der Thorheit, und für die Theilnahme ist keine Krankheit ansteckender. Man darf nie dem kleineren Uebel die Thür öffnen: denn hinter ihm werden sich stets viele andere und größere einschleichen. Die feinste Kunst beim Spiel besteht im richtigen Ekartiren: und die kleinste Karte der Farbe, die jetzt Trumpf ist, ist wichtiger als die größte derjenigen, die es vorher war. Ist man zweifelhaft, so ist das Gescheuteste, sich zu den Klugen und Vorsichtigen zu halten, da diese früh oder spät das Glück einholen.

      Im Rufe der Gefälligkeit stehen.

      Das Ansehen derer, die am Staatsruder stehn, gewinnt sehr dadurch, daß sie willfährig sind, und die Huld ist eine Eigenschaft der Herrscher, durch welche sie die allgemeine Gunst erlangen. Dies ist ja eben der einzige Vorzug, den die höchste Macht giebt, daß man mehr Gutes thun kann als alle Andern. Freunde sind die, welche Freundschaft erweisen. Dagegen giebt es Andre, welche sich darauf legen, ungefällig zu seyn, nicht so sehr wegen des Beschwerlichen, als aus Tücke: sie sind ganz und gar das Gegentheil der göttlichen Milde.

      Sich zu entziehen wissen.

      Wenn eine große Lebensregel die ist, daß man zu verweigern verstehe; so folgt, daß es eine noch wichtigere ist, daß man sich selbst, sowohl den Geschäften als den Personen, zu verweigern wisse. Es giebt fremdartige Beschäftigungen, welche die Motten der kostbaren Zeit sind. Sich mit etwas Ungehörigem beschäftigen, ist schlimmer als Nichtsthun. Für den Umsichtigen ist es nicht hinreichend, daß er nicht