Kommentar von Pascal Schrenker
Hier finden wir das erste große Indiz dafür, dass dein Verschwinden von langer Hand geplant war: Mein Bruder denkt an Altersvorsorge? Ich bitte dich! Du bist immer schon ein Kerl gewesen, der Dokumente, wie Kontoauszüge oder Lohnabrechnungen lose in einem College-Block sammelte, der grundsätzlich zu allen Terminen zu spät kam und manchmal sogar Verabredungen komplett vergaß. Nie hattest du ein Geburtstagsgeschenk und wenn wir Filme anschauten, ist dir erst nach einer halben Stunde aufgefallen, dass du ihn bereits gesehen hast.
Du bist keiner von der organisierten Sorte, keiner, der, bevor er dreißig ist, eine Lebensversicherung abschließt, vor allem dann nicht, wenn er eh so wenig verdient wie du… Das einzige, das du in deinem Leben je an Organisatorischem gestemmt hast, war das Vortäuschen deines eigenen Todes. Das ist wahrscheinlich genau der Trick an der Sache. Kein Mensch, der dich kennt, traut dir so einen Coup zu!
Tagebucheintrag vom 04. März 2010
Vor vier Tagen, am 28. Februar kam mein Sohn zur Welt, zwei Tage nach dem geplanten Termin. Wir gaben ihm den Namen Luis, nach Karinas kürzlich verstorbenen Großvater Lutz. Mir war der Name egal, ich hab nur gesagt: „Hauptsache, er ist gesund!“
Von vielen Menschen wird so eine Geburt als Wunder bezeichnet. Ich bin mir da nicht so sicher, schließlich kommen auf der Welt täglich ca. 15.000 Babys zur Welt – ich hab‘s gegoogelt… Weil man jedoch selbst eher selten Vater oder Mutter wird, empfindet man die Vorstellung an eine Geburt vielleicht als ein Wunder. Oder die Leute, die von Wunder sprechen, sehen nur die abstrakten Aspekte einer Geburt: Zwei Leben verbinden sich und schaffen neues Leben… oder so was in die Richtung.
Wenn man aber ganz konkret eine Geburt erlebt, das Blut und den Schleim, das Scheppern der Instrumente, die Schreie, die Schweißausdünstungen, der Eisengeruch, die Unruhe, die Hektik… Schwer zu glauben, dass sich so ein Wunder anfühlt! Zum Glück verlief alles ohne Probleme, nach zwei Tagen wurden die beiden schon nach Hause geschickt. Er schreit wenig und schläft so gut wie immer. Wenn ich ihn auf meinen Arm nehme, muss ich seinen Kopf halten, damit dieser nicht nach unten kippt. Seine geschürzten Lippen und die dicken Backen scheinen mich jeden Moment anprusten zu wollen. Ich kann trotzdem nicht sagen, dass ich ihn süße finde. Er hat ganz verkrustete Äuglein und seine Kopfhaut ist schuppig, was nicht ungewöhnlich ist, wie die Hebamme sagt. Ein frisch geschlüpftes Baby ist doch nie wirklich niedlich, da müssen doch erst ein paar Wochen vergehen. Obwohl seine Haut so weich ist und die Finger so winzig, dass man schon ein wenig zu Tränen gerührt ist.
Alles in allem war ich dann aber ganz froh, als ich nach der Geburt wieder nach Hause konnte. Hab mich erst mal unter die Dusche gestellt und den Abend ganz für mich allein genossen, indem ich ein Bier aus dem Kühlschrank geholt und mir bei Sky „Alle Spiele, alle Tore“ reingezogen habe.
Kommentar von Pascal Schrenker
Für mich klingt das so, als hättest du dich nur mäßig über die Geburt deines Sohnes gefreut. Er ist ein Teil von dir. Ist das nicht Wunder genug? Stattdessen stellst du nur die ekligen Aspekte der Geburt heraus. Du kannst dir nicht mal ein wenig Zeit nehmen und dir einen Namen für deinen Sohn überlegen oder dich aktiv an einer Diskussion diesbezüglich engagieren. Das interessiert dich alles nicht. Dein Sohn wird vielleicht gehänselt, wenn der Name unglücklich gewählt ist, bekommt vielleicht einen Spitznamen, unter dem er sein Leben lang leidet. Und dich interessiert es nicht… Was sagt einem das? Vielleicht, dass du mit den Herausforderungen einer Vaterschaft konfrontiert den Schwanz einziehst. Vielleicht, dass du keine Verantwortung übernehmen kannst und willst. Vielleicht, dass du eine höchst ungesunde Psyche besitzt. Vielleicht, dass du ein Egoist bist…
Tagebucheintrag vom 27. April 2010
Heute hat mich Karina wahrscheinlich zum ersten Mal in unserem gemeinsamen Leben so richtig angeschrien. Und ich hab‘ zurückgeschrien.
Wie kam’s dazu: Ich war auf dem Sprung zur Arbeit als ich roch, dass Luis in die Windel geschissen hatte. Karina war im Bad also rief ich vom Wohnzimmer rüber: „Kannst du seine Windel wechseln?“ Das war alles… Warum sie deshalb so wütend wurde, verstehe ich bis jetzt nicht. Sie kam aus dem Bad herausgestürmt, mit weißen Knöcheln und Feuer in den Augen, hob Luis auf, ging mit ihm ins Schlafzimmer, kam ohne ihn zurück, schloss die Tür und tobte los: „Für wen zum Teufel hältst du dich eigentlich, du faules Arschloch! Und für wen hältst du mich? Für deine Sklavin? Wir sind nicht mehr in den 60ern! Wie hast du dir das vorgestellt? Du verpisst dich einfach immer? Hast du dir das so gedacht?"
Ich fand ihre Anschuldigungen unfair, schließlich war ich auf dem Weg in die Arbeit. Natürlich bewahrte auch ich keinen kühlen Kopf, denn was sie mir vorwarf war, dass ich ein schlechter Vater bin. Und das warf sie mir nach wenigen Wochen vor.
Ich hab mich auf gar nichts eingelassen, war zu angepisst. Hab sie als hysterische Kuh bezeichnet, die ihren Stress gefälligst nicht an mir rauslassen soll. Sie ist den ganzen Tag zu Hause, ich gehe dagegen Vollzeit arbeiten und jetzt erwartet Sie, dass ich in der Anfangsphase genauso viel für das Kind mache wie sie. Ich will überhaupt nicht altmodisch sein, ganz im Gegenteil – es gibt nichts, was ich mehr hasse, als diese altbackenen Rollenverteilungen, aber es ist in unserem Falle einfach pragmatischer, wenn sie mehr für den Kleinen macht als ich. Sie geht nicht arbeiten, sie ist zu Hause. Und dass sie ausgerechnet in dem Moment völlig austickt, als ich mich auf den Weg ins Hotel mache, wo ich einer Tätigkeit nachgehe, die mich ankotzt, zu einer Schicht, die für mich anstrengend ist und welche ich nur angenommen habe, damit wir besser für den Kleinen sorgen können – das ist frech!
Bei der Arbeit konnte ich mich natürlich gar nicht richtig konzentrieren, weil ich so wütend war. Nach ein paar Bier am Feierabend habe ich mich wieder etwas beruhigt und so konnten wir einigermaßen vernünftig miteinander reden, als ich wieder daheim war. Ich schlug ihr vor, dass sie ja in einem halben Jahr wieder arbeiten könne, falls sie sich sonst zu sehr an den Haushalt gefesselt fühlt. Vielleicht nur vormittags bis mittags, bevor am späten Nachmittag dann meine Schicht anfängt. Sie meinte, dass sie es sich durch den Kopf gehen lassen muss. Ihre schlechte Laune verflog durch meinen Vorschlag nicht…
Kommentar von Pascal Schrenker
Warum das wohl so ist? Vielleicht sieht sie darin den erbärmlichen Versuch, von den momentanen Problemen und deinem Mangel an Verantwortung abzulenken. So richtig Gedanken hast du dir nämlich nicht gemacht. Das war die erste Lösung, die dir in den Sinn kam und das soll sie beschwichtigen. Man könnte das auch als ein „Vor-sich-hin-Schieben“ von Problemen bezeichnen. Ich bin nämlich sicher, dass diese oben beschriebene Situation nicht mehr war, als der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. In den ersten Monaten nach der Geburt bist du rumgelaufen, wie ein Zombie. Das ist Mama, Papa, mir und offenbar auch ihr aufgefallen. Distanziert, ohne Initiative hast du alle Entscheidungen das Kind betreffend ihr überlassen. Angeblich war dir das selbst nicht aufgefallen, was ziemlich beunruhigend ist.
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