Die Laternenwald-Expedition. Benjamin Stutz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benjamin Stutz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754939529
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ging ohne Widerrede am Kontrolleur vorbei und begab sich vor Ankers aus der Reihe quellenden Bauchspeck.

      »Wir wollen einfach nur unsere Ruhe haben – verstehen Sie?«, sagte Anker mit schneidender Stimme. »Veranstalten Sie hier kein Theater, wenn ich bitten darf. Wir sind Abgesandte des Staates und wollen nicht gestört werden. Damit sollte alles geklärt sein.«

      »Verzeiht unser unwürdiges Auftreten, Herr Botschafter«, sagte Salbo respektvoll, doch nicht eingeschüchtert wie der Kontrolleur neben ihm. »Wir werden uns selbstverständlich unverzüglich zurückziehen, doch erlaubt uns, im Abteil nebenan zu verweilen, bis wir in Lichterloh angekommen sind, um Eure Sicherheit zu gewährleisten. Die Vigilanz-Stufe ist zurzeit erhöht, und wir sind angewiesen, für den Schutz aller Gäste zu sorgen, besonders, wenn es sich um VIP-Kundschaft handelt.«

      »Sie scheinen Ihre Arbeit zu verstehen. Ich verlasse mich auf Sie«, versetzte Anker brüsk.

      Salbo verbeugte sich tief und gab dem erstarrten Kontrolleur nebenan einen Klaps, der sich, etwas verspätet aus seiner Starre erwachend, ebenfalls übertrieben tief verneigte. Dann verschwanden sie hinter der Tür, die zwei Wagonabteile miteinander verband und die wenigen Leute, die noch immer ihre Köpfe reckten, zogen diese tuschelnd wieder ein. Eine Durchsage ließ verstehen, dass sie in einer halben Stunde in Lichterloh-City ankommen würden.

      »Schon krass, wie die alle reagieren, wenn man so einen Pass besitzt«, bemerkte Keli und gluckste leise vor sich hin.

      »Jetzt weiß natürlich der ganze Zug, dass Zielscheiben der Schmelzfront nach Lichterloh fahren. Wirklich toll!«, murrte Loyd verärgert.

      Anders als Keli wirkte Loyd wieder genervt. Er konnte es nicht leiden, wenn Anker seine diplomatische Überlegenheit demonstrierte. Für ihn war es einfach falsch, Autorität auf diese Weise auszuüben, wenn sie doch für einen ganz anderen Zweck gedacht war. Je mehr Macht man besaß, umso weniger sollte man sie zeigen. Das hatte er bei anderen Dozenten wie Professor Tottoy zu schätzen gelernt. Dazu kam, dass Anker Keli ein falsches Bild von der akademischen Welt vermittelte. Ehe sie nach Kael aufbrechen würden, musste er unbedingt mit Keli noch einmal unter vier Augen sprechen, um sie über die Gefahren und grundlegenden Verhaltensweisen eines staatsvertretenden Wissenschaftlers aufzuklären. Im Hotel heute Abend würde er sie darauf ansprechen.

      Sie machten gerade Halt am ersten Bahnhof seit dem Verlassen von Herbstfeld. »Kunterbunt«, konnte Keli auf einer digitalen Tafel über der Tür am Ende des Abteils lesen. Als ihr Loyds finsterer Gesichtsausdruck auffiel, sank ihr Herz wieder in die Hose. Was ist ihm nun wieder über die Leber gekrochen?, dachte Keli verdrießlich. Wieso um Himmels Willen war ihr Bruder in letzter Zeit immer so schlecht gelaunt? Hatte er vielleicht doch etwas dagegen, dass sie auf der Mission mit dabei war? Oder war er etwa eifersüchtig auf ihre gute Beziehung zu Anker? Von Loyds Trübsinn angesteckt und über hundert möglichen Gründen brütend, warum Loyd eine missgestimmte Grimasse zog, sagte Keli bis zum Ende der Fahrt kein Wort mehr.

      Die Aussicht draußen veränderte sich abermals von Hütten und Bauernhöfen zu Einfamilienhäusern, dann zu breiten Straßen, auf denen einzelne Gefährte und Wesen hin- und herstreiften, bis die Gebäude so riesig wurden, dass man deren Dächer vom Zugfenster aus gar nicht mehr erkennen konnte. Einzig die langen Äste und Wurzeln, die man an den Fassaden der Hochbauten herunterhängen sah, deuteten darauf hin, dass die Gebäude nicht unendlich hoch waren. Ein Werbeplakat nach dem anderen zog an Kelis Augen vorbei: »Willkommen in Lichterloh, in der Stadt der grünen Tugend« … »Greenhill Luxury-Resort, 2 Minuten zu Fuss« … »CloudX – das naturtrübe Siebbier – jetzt auch mit Rosinengeschmack«. Keli zuckte für einen Augenblick auf.

      »Siebbier« – das war das Zeug, das die Leute in der Lailac-Straße getrunken hatten. Was würde sie geben, um jetzt schon sechzehn zu sein. Sie wollte alles probieren, was die Welt zu offerieren hatte, jetzt, wo das Schicksal ihr den Weg in den Laternenwald eröffnet hatte. Ursprünglich war es – im Gegensatz zu Loyd – Kelis Absicht gewesen, für immer in Hildenberge zu bleiben und die Arbeit ihrer Familie fortzuführen, doch der Ausblick auf die Vielfalt und schiere Größe des Laternenwalds ließen diesen Lebensweg das erste Mal in ihrem Leben in Vergessenheit geraten. Sie würde alles versuchen, von allem kosten, die Zeit als Prominente bis zum Äußersten ausschöpfen, und Siebbier gehörte ab sofort ganz oben auf ihre Prioritätenliste. Und Loyd würde ihr ihre neuen Vorsätze mit seiner schlechten Laune nicht verderben.

      Der Zug begann, langsamer zu werden. Die Lautsprecher ertönten erneut: »Endstation – Lichterloh-Hauptbahnhof. Willkommen in der Stadt der grünen Tugend. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Bitte achten Sie darauf, kein Gepäck im Zug zurückzulassen. Wir bedanken uns, dass Sie heute mit der Intercity-Wasserbahn gefahren sind und freuen uns, Sie bald wieder begrüßen zu dürfen.«

      Kelis Herz begann, schneller zu pochen. Sie waren in Lichterloh angekommen, in der Stadt, von der aus das Abenteuer seinen Lauf nehmen würde.

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