Kapitel 17
Sie standen seit gut zwei Minuten vor der Buchhandlung, während der Verkehr hinter ihnen träge entlang zog. Durch die beiden Schaufenster war nicht viel zu erkennen. Die Auslagen hatten sich seit Sarahs letztem Halt hier nicht verändert; nur eine kleine Kreidetafel pries jetzt ein »Frühsommersonderangebot« an – vier Bücher für den Preis von drei. Matthew war sich angesichts des einzigen Titels, der das Schaufenster dominierte, nicht mal sicher, ob er hier überhaupt eines kaufen würde.
Die lautstarke, aber offensichtlich gut gelaunte Diskussion zweier älterer Damen, die ein Stück den Gehweg hinab standen, wurde nur gelegentlich von einem kräftigen Hupen übertönt. Hin und wieder war ein Vogelzwitschern weit über ihnen zu hören, aber ansonsten erfüllte nur der Klang einer Stadt zur Mittagszeit die Luft.
»Also, was ist nun? Gehen wir rein?« Sarah klang gleichermaßen ungeduldig wie unsicher. Matthew konnte deutlich seine eigenen Gedanken in ihrer Stimme wiedererkennen. Wie sollten sie das angehen? Der Fremde, von dem Sarah gesprochen hatte, war nirgends zu sehen. Dupoits Antwort war simpel – er öffnete die Tür und trat ein. Sarah und Matthew folgten ihm, ohne weiter zu zögern.
Ein Glöckchen über der Tür kündigte mit einem kurzen, hektischen Klingeln ihre Ankunft an. Der Raum schien rechteckig zu sein, aber genau war das nicht auszumachen. Nicht nur die Wände waren von dunklen, raumhohen Holzregalen gesäumt, auf der linken Seite des Ladens standen zwei davon quer und versperrten die Sicht. Zu ihrer Rechten waren vier lange Tische mit spiralförmig angeordneten Bücherstapeln bedeckt. Matthew trat einen Schritt vor und versuchte, an den Regalen vorbei tiefer in den Raum zu blicken. An der Rückwand verdeckte ein persisch anmutender Vorhang scheinbar einen Durchgang. Davor stand ein Tisch mit einer alten Registrierkasse und einem wesentlich moderneren Telefon. Weder der ausladende Leuchter an der Decke noch die grünen Wandlampen zwischen den Regalen waren eingeschaltet und das schräg einfallende Sonnenlicht wurde durch die Scheiben getrübt, als ob es sich nicht weiter in den Laden traute. Außer ihnen schien niemand hier zu sein.
Während Dupoit sich den Regalen links von ihnen zuwandte, ging Sarah an den Tischen vorbei in den hinteren Teil des Raumes. »Hallo?«, rief sie zaghaft. Sie drehte sich um und warf Matthew einen fragenden Blick zu. Dann rief sie wieder, diesmal bestimmter: »Ist jemand hier?«
Matthew hatte den Eindruck, als wäre bereits länger nicht mehr gelüftet worden. Die Luft war nicht wirklich drückend, aber roch etwas modrig – und es war mit Sicherheit nicht der Geruch alter Bücher, den er aus seiner Studienzeit nur zu gut kannte. Er blickte zu Sarah, die jetzt wie ihr Großvater angefangen hatte, die Regale genauer in Augenschein zu nehmen. Matthew ging zu einem der Tische. Die Bücher hier im vorderen Teil waren ausnahmslos neueren Datums: Thriller, Liebesromane, Selbsthilfebücher, Geschenkbände, Biographien. Nichts davon sah älter als ein halbes Jahr aus und Matthew erkannte einige von den Bestsellerlisten des Mercure wieder.
Er nahm das erstbeste Buch in die Hand. Auf dem Schutzumschlag in dramatischem Rot und Schwarz prangte in obszön großen Lettern Das Dunkel der Finsternis. Matthew legte es grinsend wieder auf den Stapel, doch als er schon weitergehen wollte, blieb sein Blick wieder an dem Umschlag hängen. Auf dem glatten Kunststoff war jetzt deutlich sein Handabdruck zu sehen. Er beugte sich vor und betrachtete die anderen Bücher auf dem Tisch. Ausnahmslos alle Bände, die oben auf den Stapeln lagen, waren mit einer feinen grauen Schicht überzogen. Matthew ging zügig zu den Regalen. Auch hier lag Staub auf jeder freien Fläche. Als er zu Dupoit blickte, der die Bücher nahe am Fenster inspizierte, sah er, dass bei jedem seiner Schritte winzige Staubwölkchen aus dem Teppich aufstiegen und im Sonnenlicht tanzten.
»Findet ihr es nicht auch seltsam, dass ein vollkommen neuer Laden so dick mit Staub eingedeckt ist?« Matthew sah, dass Sarah die Bücher, die vor ihr lagen, jetzt ebenfalls näher unter die Lupe nahm. Sie wandte sich Matthew zu und öffnete schon den Mund, um etwas zu sagen, drehte dann aber den Kopf etwas zur Seite und verharrte konzentriert ins Leere blickend. »Hört ihr das auch?«, fragte sie nach einigen Sekunden.
Matthew blickte nach unten und schloss die Augen. Zunächst hörte er nichts außer den gedämpften Geräuschen der Straße vor dem Laden, aber dann vernahm er tatsächlich ein leises Summen. Es erinnerte ihn an den Klang eines Generators, aber er konnte nicht bestimmen, woher es kam.
»Wir sollten gehen. Irgendetwas verändert sich. Ich kann es spüren und ich denke, das heißt nichts Gutes.« Es war Dupoit und seine Stimme klang auf einmal wieder schwach und brüchig, so wie an dem Abend, als er auf der Bank am Flussufer aufgetaucht war.
Matthew wollte ihm beipflichten, aber bevor er etwas sagen konnte, spürte er ein ungewohntes Kribbeln im Gesicht. Es kam ihm vor, als lade sich die Luft um ihn herum mit knisternder Elektrizität auf. Das Summen des Generators wurde plötzlich vom Rauschen einer toten Radiofrequenz abgelöst.
Inmitten des Rauschens erhob sich ein dumpfes Dröhnen. Matthew konnte es in seinem Bauch und hinter seinen Augen spüren. Dann gaben seine Knie nach und er knickte ein. Während der Boden auf ihn zukam, schien er nicht einfach nur zu stürzen; vielmehr hatte er das Gefühl des abrupten und schnellen Fallens, das ihn manchmal heimsuchte, wenn er bereits halb schlafend im Bett lag. Doch da war noch etwas anderes. In dem Maße, in dem er fiel, sagte ihm sein Kopf, dass er eigentlich nach oben stieg.
Seine Hände berührten den Boden. Auch jetzt, da er auf allen vieren war, hörten diese widersprüchlichen Empfindungen nicht auf. Um sie herum veränderte sich das Licht. Die wenigen Sonnenstrahlen, die in den Laden fallen konnten, zogen sich langsam zurück, und der Schatten aus dem hinteren Teil des Raumes kroch über den staubigen Teppichboden auf ihn zu. Er hob den Kopf und blickte zu Sarah. Sie stand noch auf ihren Füßen, eine Hand klammerte sich an eines der Regalbretter vor ihr, aber er konnte sehen, dass ihre Beine bereits nachgaben. Ihre Augen waren zusammengekniffen und Schweiß glänzte auf ihrer Stirn. Dupoit zu seiner Linken war ebenfalls auf den Knien und presste beide Hände gegen sein Gesicht. »Es ist ein Tor«, schrie er, und seine Stimme überschlug sich dabei vor Panik. »Es passiert schon wieder!«
Dann war es, als ob jemand schweigend den Raum betrat. Innerhalb eines Augenblicks verstummten alle Geräusche und zwei schwere, kalte Hände legten sich um Matthews Herz, mehr noch, um seinen Geist, und schienen jedes gute Gefühl, jede glückliche Erinnerung, jeden Anflug von Hoffnung aus ihm herauszupressen. Nie hatte er es für möglich gehalten, so viel Boshaftigkeit und Hass zu spüren, ein Hass, der ihn wie eine gewaltige schwarze Welle traf, abgrundtiefer Hass in einem weiten, leeren Raum ohne Zuflucht. Für einen Moment war er überzeugt, dass dies sein Ende war, dass sein Geist einfach verwelken und er als leere Hülle tot in diesem Staub zurück bleiben würde.
War er überhaupt noch auf dem Boden? War er noch in dieser Stadt? Seine Umgebung war jetzt nicht viel mehr als ein schwaches Echo der Wirklichkeit, das verschwommen hinter diesen immer neuen Wellen lag. So schwach es auch war, er konnte es spüren. Aber es fühlte sich fremd an, genauso fremd wie das unsichtbare Wesen, das so unvermittelt in diesen Raum und in seine Seele eingedrungen war. Was war mit Sarah und Dupoit? Er konnte sie nicht mehr sehen, so getrübt war sein Blick von dem Schmerz und der plötzlichen Verzweiflung.
Aber dann wurde der Griff schlagartig schwächer und die Wellen ebbten ab. Wieder veränderte sich etwas. Erst zaghaft, dann immer deutlicher, spürte er hinter sich eine zweite Präsenz. Matthew öffnete die Augen und er konnte wieder den Teppich erkennen, der jetzt nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war. Die Kälte kroch langsam aus seinem Herzen, während die Schatten sich wieder zurückzogen. Was er nun hinter sich wahrnahm, fühlte sich ebenso fremd an wie die erste Präsenz, aber statt Verzweiflung durchströmte ihn jetzt wärmende Hoffnung. Es war kein Hass, sondern Mitgefühl, das dieses Wesen antrieb. Sein Blick wurde klarer und er sah, dass Sarah wieder aufrecht stand. Sie hielt ihre Augen noch geschlossen, aber der Ausdruck auf ihrem Gesicht wirkte jetzt entspannt. Matthew sah besorgt zu Dupoit, aber auch er war schon wieder dabei aufzustehen.
Das Gefühl kehrte in Matthews