Wie ich es sehe. Johanna Knapp. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johanna Knapp
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754173701
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Ich helfe Dir. Du bist doch meine Boubou.

      Jill hatte es sich angewöhnt sich so zu kleiden wie ich. Manchmal lieh sie sich meine kurzen, engen Kleider aus und quetschte ihre großen Brüste rein. Sie nannte sich in ihrer Klasse mit meinem Namen. Alle sollten sie da Rose nennen. Und mir gefiel das, die Bewunderung und dass sie meine Freundin sein wolle.

      Bei Jills Eltern konnte ich drei Tage bleiben. Sie wollten, dass ich mit Mama redete, die jetzt ständig bei Jill anrief. Ich aber schickte Jill ans Telefon und ließ sie ausrichten, ich würde nie wieder von mir hören lassen und wolle nie wieder nach Hause zurück zu der Frau, die mich, ihre Tochter, aus dem Haus geworfen hatte. Ich ließ Jill für mich fragen, warum Mama überhaupt anrief. Sie hatte mir doch deutlich gezeigt, dass sie mich nicht mehr wollte. Und darum sollte sie es jetzt genauso haben, wie sie es sich gewünscht hatte. Mama sprach aber nicht mit Jill und sagte nur, ich könne sie anrufen, wenn ich eines Tages mit ihr reden wolle.

      Jills Eltern waren letztlich genauso drauf wie alle Erwachsenen und behaupteten, ich müsse meiner Mutter dankbar sein, für alles, was sie für mich getan hatte und dass mich meine Mutter ja so sehr vermissen würde. Jill lächelte dann zustimmend, und ihre Mutter schien ihr tatsächlich zu glauben. Wenn die gewusst hätten, wie Jill über meine Mutter herzog.

      Weil sie so blöd und vertrauensselig war, hatte sie auch nichts Besseres verdient, als dass ich mir aus ihrer Schmuckschatulle, die im Badezimmer offen herumstand, ein paar goldene Kreolen stibitzte und dazu noch einen hübschen Ring mit einer Blüte aus weißen Perlen und kleinen Diamanten einsteckte. Weil Jill sich schon regelmäßig aus ihrem Portemonnaie bediente, konnte ich da nicht auch noch zugreifen, ohne dass es Jills Mutter aufgefallen wäre.

      Den Abend, als ich bei Jills Eltern rausmusste, verbrachte ich mit Nail und ein paar Leuten aus der Schule im Rheinpark. Wir tranken Wodka mit Limo, rauchten ein paar Joints und irgendwann gegen Morgen war ich zum Sterben müde und hungrig. Ich schnappte mir Dario, der uns um Kippen angeschnorrt hatte. Ich wusste, er wollte nicht bloß rauchen, er suchte unsere Gesellschaft, um sich an ihr zu wärmen, weil er alleine war, von zu Hause abgehauen, ohne Geld und nicht wusste, wo er hinsollte. Wir gingen durch die kühle Nacht am Flussufer entlang nach Hause. Ich war sicher, Mama würde mir aufmachen und vor Mitleid schmelzen. Aber Mitleid gab es nur für die alte Katze und Rotkehlchen Franz. Dario, in Jinglers-Jeans und schmuddeligem T-Shirt, musste draußen bleiben, ich durfte vorläufig rein. Den Rucksack ließ ich vor der Tür stehen. Als sie verlangte, ich solle mich entschuldigen und versprechen, in Zukunft ihre Regeln einzuhalten, ließ ich eine Flut von Schimpfwörtern auf sie los. Dagegen war ich machtlos, es sprudelte einfach aus mir heraus. Wenn es passierte, verglich Mama mich gerne mit der verrückten alten Frau, die bei uns im Viertel herumstreunt und in der Straßenbahn ohne Pause in unüberhörbarer Lautstärke die anderen Fahrgäste beschimpft. Das machte mich dann noch wütender. Als ich wieder rauskam, war Dario schon weg. Für die Zeit, die ich gebraucht hatte, um ein paar Klamotten, Schuhe, Decke, Schminkzeug und Deo in eine Plastiktüte zu stopfen, hatte seine Zuversicht nicht ausgereicht. Später stellte ich fest, dass er die Kreolen und den feinen Ring von Jills Mutter aus meinem Rucksack geklaut hatte. Dario würde sie nun statt meiner zu Geld machen. Er kannte die Läden der Trödler an dem tristen Platz auf der anderen Rheinseite, wo Diebe und arme Leute ihren Schmuck und ihre Uhren versetzen.

      Nachts im Park

      Jill wusste, wo ich hinkonnte.

      Sie kannte ein Menge Leute und meinte, jetzt im Frühling sei es wie Camping bei schönem Wetter draußen zu pennen. „Bei meinen Kumpels bist du sicher“, sagte sie. „Die ziehen keinen ab, besonders nicht meine süße Boubou“.

      Warum auch immer sie mir diesen kindischen Namen gab, ich konnte es nicht ausstehen, wenn sie mich so nannte. Irgendwie war es besitzergreifend. Und ich hasse es, wenn jemand glaubt, er könne über mich verfügen. Aber ich sagte nichts, denn Jill war damals mein ein und alles. Ich wollte ihr unbedingt gefallen.

      Wie immer hingen sie auf einer Wiese bei der Brücke herum, eine Gruppe Jungen und Mädchen, alle so um die 17, 18 Jahre alt. Ihre Piercings blitzten in der Sonne und ihre Haare leuchteten in allen möglichen Farben. Hunde hatten sie auch dabei, die gleich anfingen zu bellen, als wir näherkamen.

      „Hey, Jill, wer ist denn die Prinzessin, die du da mitschleppst?“

      „Hey, Axel, das ist Rose. Sie hat ein Problem mit ihrer Alten und kann nicht nach Hause.“

      Der Junge sah mich aus hellen, spöttischen Augen an. Wenn er lächelte, zeigte er braun verfärbte kleine Zähne, die ziemlich weit auseinander standen. Eigentlich war er hübsch. Er drehte sich gerade eine und ich starrte auf die rissige Haut seiner Hände und die vom Nikotin gelb verfärbten Finger mit den Totenkopfringen.

      „Hey, Prinzessin, erzähl doch mal selbst, was du hier willst.“

      Ich habe euch noch nicht gesagt, dass ich verdammt gut lügen kann. Ich lüge eigentlich immer. Den Leuten in der Schule habe ich erzählt, meine Mutter sei Lehrerin. Dabei ist sie Malerin, aber ich erfand mir einfach die Mutter mit regelmäßigen Arbeitszeiten und regelmäßigem Einkommen, die ich lieber gehabt hätte. Jill habe ich erzählt, ich sei magersüchtig gewesen. Klar habe ich mal versucht zu kontrollieren, was und wieviel ich esse, nur hat es überhaupt nicht funktioniert, denn ich mag Essen einfach zu gerne. Meiner Mutter klaue ich Zigaretten, wenn ich sie finde. Da sie immer behauptet, nicht zu rauchen, kann sie nichts dagegen sagen. Sie weiß es aber. Sie ist selbst eine Lügnerin. Ich habe meiner Mutter auch erzählt, Jill hätte sich selbst erzogen, seit ihre drogensüchtigen Eltern tot wären. Davon war sie mächtig beeindruckt, bis sie Jills Adoptivmutter kennen lernte und herausfand, dass auch diese Geschichte erfunden war. Klar war sie ihr ein bisschen unwahrscheinlich erschienen, aber da sie gerne dazu bereit ist, Wunderbares zu sehen, hat sie es schließlich geglaubt. Über meine Lügerei war Mama manchmal traurig und manchmal amüsiert. Wenn sie amüsiert war, sagte sie immer, ich litte an der Schwindelsucht und verglich mich mit einem Jungen aus einem alten Film, dessen Eltern sich ewig streiten. Ein verstockter Junge, der lügt und stiehlt und die Schule schwänzt, aber am Ende ein großer Künstler. Meine Mutter steht auf französische Filme und Romane, italienische Malerei, Bob Dylan und überhaupt alles, was ihr erlaubt die Welt in Rosarot zu sehen. Das ganze Leben wäre ein Roman, ginge es nach meiner Mutter. Deshalb findet sie meine Lügerei manchmal auch amüsant, nur in letzter Zeit wurde es ihr dann doch zu viel des Guten. Und ich meine auch, sie sollte einfach mal sehen, was hier die Wirklichkeit ist. Ich setzte einen harten Blick auf, mit dem ich Axel fixierte, und die Lüge ging wie geschmiert über meine Lippen:

      „Ich habe Stress mit meiner Alten. Ich muss weg von zu Hause. Meine Mutter hat mich rausgeworfen. Sie säuft und wenn sie besoffen ist, dann wird sie aggressiv. Sie scheuert mir eine, wirft mich aufs Bett und prügelt auf mich ein.“

      Mit dieser Geschichte gab sich Axel zufrieden, aber ich sah seinem Lächeln an, dass er sie nicht wirklich glaubte. Ich durfte mich neben ihn setzen und er zeigte mir seine weiße Ratte, die aus seiner Jackentasche gekrochen kam und über seinen Arm hinauf auf seine Schulter lief. Ihre langen Schnurbarthaare kitzelten sein Ohr. Er nannte sie Maxwell und fütterte sie mit kleinen Stückchen von seinem Toastbrot.

      „Prinzessin, du suchst etwas und weißt nicht, was. Für die meisten von uns fühlt sich das Leben hier an wie Endstation. Meinetwegen darfst du ein bisschen am Abgrund spielen. Solange kannst du an meiner Seite bleiben. Ich pass auf, dass du nicht hineinfällst.“

      „Hey, jetzt hört euch mal unseren Dichter an“, mischte sich ein Mädchen ein. „Klar, auf so ein Püppchen aus gutem Hause fährst du voll ab. Das ist nicht zu übersehen. Hör mal Süße, glaub mal nicht, dass es hier keine Spießer gibt. Schau mal in seinen Rucksack. Für Bücher gibt er seine Kohle her. Und das Geld klaut er nicht. Nein, er steht jeden Tag um acht auf und geht arbeiten bis um sieben. Du glaubst, dein Verstand und dass du einen Job hast, machen dich zu etwas Besserem“, wandte sie sich wieder an Axel, „dabei hast du genauso wenig ein Zuhause wie wir alle hier. Du bist auch nur ein Stein in der Gosse, den jeder herumkicken kann, und niemand will dich haben, seit du auf der Welt bist. Daran wird sich niemals etwas ändern. Hast du noch was zu rauchen für