Die eiserne Ferse. Jack London. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jack London
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754183885
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weiß noch, wie ich unwillkürlich die Augen senken mußte; ich fühlte mich ganz erleichtert, als ich ihn stehen lassen konnte, um Bischof Morehouse zu begrüßen – einen meiner Lieblinge, ein Mann von mildem Ernst in reiferen Jahren, eine gütige Christuserscheinung und dabei ein tüchtiger Gelehrter.

      Aber diese Kühnheit, die mir als Anmaßung erschien, war ein Grundzug in Ernst Everhards Wesen. Er war einfach und geradezu, fürchtete sich vor nichts und verschmähte es, Zeit auf konventionelles Getue zu verschwenden. »Du gefielst mir,« erklärte er mir viel später einmal; »und warum sollten sich meine Augen nicht sattsehen an dem, was mir gefiel?« Ich sagte, daß er sich vor nichts fürchtete. Er war der geborene Aristokrat – und das trotz der Tatsache, daß er im Lager der Nichtaristokraten stand. Er war ein Übermensch, eine blonde Bestie, wie Nietzsche Friedrich Nietzsche, der tolle Philosoph des neunzehnten Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung, der Lichtblitze der Wahrheit erfaßte, aber im menschlichen Denken immer im Kreise ging, bis er sich schließlich in den Irrsinn hineindachte. sie beschrieben hat, und zu alledem ein glühender Demokrat.

      Die Begrüßung der übrigen Gäste nahm mich in Anspruch, und dazu kam der ungünstige Eindruck, den der Arbeiterphilosoph auf mich gemacht hatte, so daß ich ihn ganz vergessen haben würde, hätte er nicht ein- oder zweimal meine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, und zwar durch ein Aufblitzen seiner Augen, während er den Worten eines der Geistlichen lauschte. Er hat Humor, dachte ich und verzieh ihm fast seine Kleidung. Aber das Essen ging seinem Ende zu, ohne daß er den Mund zum Sprechen geöffnet hätte, während die Geistlichen ununterbrochen von der arbeitenden Klasse und ihren Beziehungen zur Kirche, sowie von dem redeten, was die Kirche für sie getan hatte und noch tat. Ich merkte, daß mein Vater sich ärgerte, weil Ernst nichts sagte. Einmal nahm er eine Pause wahr, um ihn zu bitten, etwas zu sagen; Ernst aber zuckte mit einem »ich habe nichts zu sagen« die Achsel und fuhr fort, Salzmandeln zu essen.

      Vater ließ sich jedoch nicht abweisen. Nach einer Weile sagte er:

      »Wir haben ein Mitglied der arbeitenden Klasse unter uns. Ich bin sicher, daß er manches von einem neuen, interessanten und erfrischenden Standpunkt aus beleuchten könnte. Was meinen Sie, Herr Everhard?«

      Die andern bezeigten geziemendes Interesse und baten Ernst um eine Darlegung seiner Ansichten. Ihr Benehmen gegen ihn war so duldsam und liebenswürdig, daß es schon beinahe herablassend wirkte. Und ich sah, daß Ernst es bemerkte und belustigt war. Er blickte sich langsam um, und ich sah das Lachen in seinen Augen.

      »Ich bin nicht in der Höflichkeit geistlicher Unterhaltung bewandert«, begann er, stockte dann aber bescheiden und unschlüssig.

      »Nur zu«, drängten die andern, und Dr. Hammerfield sagte: »Wir stoßen uns nicht an der Aufrichtigkeit eines Menschen, wenn sie nur ehrlich ist.«

      »Sie machen also einen Unterschied zwischen Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit?« Ernst lächelte flüchtig bei diesen Worten.

      Dr. Hammerfield schnappte nach Luft; dann erwiderte er: »Die besten unter uns können irren, junger Mann, die besten unter uns.«

      Ernst änderte sein Benehmen augenblicklich. Er wurde ein anderer.

      »Also schön,« sagte er, »dann lassen Sie mich Ihnen gleich von vornherein sagen, daß Sie alle irren. Von der arbeitenden Klasse wissen Sie nichts, weniger als nichts. Ihre Soziologie ist ebenso falsch und wertlos wie ihre ganze Denkart.«

      Es war nicht so sehr, was er sagte, wie die Art, wie er es sagte. Beim ersten Klang seiner Stimme war ich aufgerüttelt. Diese Stimme war ebenso kühn wie seine Augen. Sie durchdrang mich wie eine Fanfare. Und die ganze Tafelrunde war aufgerüttelt und aus ihrer Eintönigkeit und Schläfrigkeit geweckt.

      »Was ist denn so Falsches und Wertloses an unserer Denkart, junger Mann?« fragte Dr. Hammerfield, und schon war eine gewisse Unliebenswürdigkeit in seiner Stimme und Sprechweise zu spüren.

      »Sie sind Metaphysiker. Durch Metaphysik können Sie alles beweisen; und demzufolge kann jeder Metaphysiker jedem andern Metaphysiker – zu seiner eigenen Genugtuung – beweisen, daß er irrt. Sie sind Anarchisten im Reiche des Gedankens. Und schlechte Weltordner sind Sie dazu! Jeder von Ihnen lebt in seiner selbstgeschaffenen Welt, die seiner Phantasie und seinen eigenen Wünschen entsprungen ist. Die wirkliche Welt, in der Sie leben, kennen Sie nicht, und in der wirklichen Welt hat Ihr Denken nur insofern Platz, als diese Welt eine durch Geistesverwirrung hervorgerufene Erscheinung ist.

      Wissen Sie, woran ich denken mußte, als ich bei Tisch Ihren Gesprächen lauschte? Sie erinnerten mich ganz an die Welt der Scholastiker im Mittelalter, die feierlich und unter Aufgebot ungeheurer Gelehrsamkeit die fesselnde Frage behandelten, wieviele Engel auf einer Nadelspitze tanzen könnten. Ja, meine verehrten Herren, dem geistigen Leben des zwanzigsten Jahrhunderts stehen Sie ebenso fern wie ein indianischer Medizinmann, der vor zehntausend Jahren im Urwald seine Beschwörungen vornahm.«

      Eine schöne Leidenschaft schien Ernst beim Sprechen zu erfüllen; sein Antlitz glühte, seine Augen leuchteten und sprühten, und Kinn und Kiefer zeigten eine angriffslustige Beredtheit. Aber es war dies nur seine Art. Sie war es, die stets die Menschen aufrüttelte. Seine Art, anzugreifen, wie ein Hammer niederzuschmettern, ließ sie alles um sich vergessen. Und so geschah es auch jetzt. Bischof Morehouse beugte sich vor und lauschte gespannt. Zorn und Ärger rötete das Gesicht Dr. Hammerfields. Einige von den andern waren auch aufgebracht, während wieder andere belustigt und überlegen lächelten. Ich selbst fand es außerordentlich drollig. Ich warf einen Blick auf meinen Vater und bekam Angst, daß er im nächsten Augenblick losplatzen würde über den Erfolg der Bombe, die er selbst geschleudert hatte.

      »Ihre Worte sind recht unklar«, brach Dr. Hammerfield das Schweigen. »Präzisieren Sie bitte, was Sie damit meinen, wenn Sie uns Metaphysiker nennen.«

      »Ich nenne Sie Metaphysiker, weil Sie metaphysisch denken, fuhr Ernst fort. »Sie denken alles andere eher als wissenschaftlich. Ihre Folgerungen haben keine Gültigkeit. Sie können alles und nichts beweisen, ohne daß auch nur zwei von Ihnen einig wären. Jeder von Ihnen sucht sich und das All nach seiner eigenen Überzeugung zu erklären. Ebensogut können Sie sich an Ihren eigenen Stiefelstrippen hochheben, wie eine Überzeugung durch die andere erklären.«

      »Ich verstehe Sie nicht«, sagte Bischof Morehouse. »Mir scheint doch, daß alles Geistige metaphysisch ist. Die exakteste und überzeugendste aller Wissenschaften, die Mathematik, ist durch und durch metaphysisch. Jeder Denkprozeß eines Wissenschaftlers ist es. Geben Sie mir da nicht recht?«

      »Ja, insofern Sie sagen, daß Sie mich nicht verstanden haben«, erwiderte Ernst. »Der Metaphysiker urteilt deduktiv aus seiner eigenen Subjektivität heraus. Der Wissenschaftler urteilt induktiv aus der Erfahrung heraus. Der Metaphysiker schließt von der Theorie auf die Tatsachen, der Wissenschaftler von den Tatsachen auf die Theorie. Der Metaphysiker erklärt das Universum aus sich, der Wissenschaftler sich aus dem Universum.«

      »Gott sei Dank, daß wir keine Wissenschaftler sind«, murmelte Dr. Hammerfield selbstgefällig.

      »Was sind Sie denn?« fragte Ernst.

      »Philosophen.«

      »Ach so!« lachte Ernst. »Sie haben den festen Boden verlassen und sich mit einer Nachricht für ein Flugzeug in die Luft begeben. Bitte, kommen Sie wieder zur Erde herab und sagen Sie mir kurz und bündig, was Sie unter Philosophie verstehen.«

      »Philosophie ist –«, Dr. Hammerfield machte eine Pause und räusperte sich, »etwas, das nur denen verständlich gemacht werden kann, die selbst nach Geist und Temperament Philosophen sind. Der begrenzte Wissenschaftler, der seine Nase in ein Reagenzglas steckt, versteht von Philosophie nichts.«

      Ernst überging den Stich. Es war stets seine Art, die Spitze gegen den Gegner zu kehren, und er tat es auch jetzt, wobei seine Miene seine Worte ausdrucksvoll unterstrich.

      »Dann werden Sie aber zweifellos die Erklärung verstehen, die ich Ihnen jetzt von der Philosophie geben werde. Zuvor aber ersuche ich Sie, etwaige Irrtümer darin festzustellen oder schweigender Metaphysiker zu bleiben. Die Philosophie ist unbedingt die umfassendste aller Wissenschaften.