»Moment.« Volker kramte im Beutel und holte den Klumpen wieder hervor. »Willst du einen?« Er hielt Vigor das Stück Zucker hin. »Die bleiben bei mir öfter mal übrig.«
»Äh, das kostet ein Vermögen.«
»Du sollst ihn ja nicht bezahlen.«
»Ist schon in Ordnung«, wimmelte Vigor ab. Der Hengst beobachtete die Jungen interessiert.
»Jetzt iss ihn halt«, beharrte Volker. »Sonst kriegt Obsidan den und dann wird er noch fett.«
Vigor steckte das Stück Zucker in den Mund und lutschte es. Es war furchtbar süß. Vigor schüttelte sich.
»Noch nie Zucker gehabt, oder?« Volker lachte und erwartete ein Nein von seinem Freund. Doch der schlanke Junge zuckte die Achseln. Er hatte ein merkwürdiges Gefühl. Den verboten süßen Geschmack auf den Lippen kannte er irgendwo her.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er schließlich. Vigor dachte eine Weile darüber nach. Das Zusüß verband er mit einer Flüssigkeit, vielleicht Tee oder dergleichen. Dann legte Volker ihm die Hand um die Schultern. »Sei es drum.«
Vigor nickte.
Die Hügel wurden noch ein wenig flacher und die Waldausläufer bedeckten sie von Süden her. Lichtung und Forst wechselten sich ab. Dann gaben die Bäume erneut die Hügel frei. Der Weg, dem die Jungen folgten, war ein ausgewaschener Trampelpfad. Hausrotschwanz, Nachtschwalbe und Nachtigall sangen bereits ihre Lieder. Die Sonne stand schon tief am roten Himmel als Volker ihm den Eimer reichte. »Hier trennen sich unsere Wege.«
»Danke für alles«, sagte Vigor.
»Keine Ursache«, entgegnete Volker. »Erzähl mir auf jeden Fall vom dummen Gesicht des obersten Hansels.«
»Ja, der Aufseher wird nicht damit rechnen, dass ich ihm den Eimer bringe.«
»Denke ich auch, insbesondere weil du echten Mörderschlamm am Körper hast.« Volker bestieg den Hengst ohne Mühe. »Und das orange-beigefarbene Zeug gibt es sonst nirgends. Bis die Tage.«
»Bis die Tage«, verabschiedete sich Vigor. »Sehen wir uns dann?«
»Ja, wir treffen uns bei Gelegenheit im Dorf«, erklärte Volker. »Der Hof ist momentan im Jagdschloss. Es ist unsere Sommerresidenz.«
»Ach so.« Vigor winkte Volker nach, der davon ritt um die Hügel in Richtung des Dorfs.
Dann stieg Vigor den Hügel hinauf. Er würde sich die verschlammte Kleidung erst am nächsten Tag im Fluss waschen. Nicht nur weil er den Beweis brauchte, dass er am See ohne Boden gewesen war. Für heute hatte er einfach genug.
3. Kapitel: Leidige Diskussionen
Die Abendsonne verschwand hinter den spitzen, baumlosen Gipfeln der Heros Rocks. Der Gebirgszug warf lange Schatten auf die roten Ziegeldächer und den Innenhof des Schlosses, um den sich das Palais, einige Türme, Kasernen und Wirtschaftsgebäude aus gelbem und rotem Sandstein quetschten. Eine Garde in türkisfarbenen Gewändern verließ gerade den Burghof, als sich mitten über den gelben Sandsteinplatten ein magisches Portal als roter Lichtpunkt öffnete. Mit einem leisen Surren wuchs es in die Form eines ovalen Kreises und wurde immer gelblicher. Das Portal schwebte kurz über dem Boden und wechselte ständig die Farbnuancen zwischen Hellgelb, Goldgelb und Orange. Ein Gefolge erschien darin und trat heraus. Es waren Ritter in den Uniformen von Starkenberg. Ihre Schilder verrieten durch ein Symbol, das wie ein Haken aussah, dass die Männer zur Neunten Armee, dem größten Infanterieverband des Großherzogtums, gehörten. Siegmund trat hindurch. Er trug wie so oft die traditionelle Herrscherkluft der Herren von Starkenberg: der dunkelrote Mantel mit dem gelbem Innenfutter auf der königsblauen Weste, darunter das weiße Hemd und die pechschwarzen Hosen. An seinem schwarzen Ledergürtel prangten Schwert und Dolch, deren Griffe mit schwarzem Leder umwickelt war. Knauf und Stange waren wenig verzierter, aber elegant geschwungener Stahl. Passend dazu trug er schwarze, geschnürte Reiterstiefel. Die Männer standen stramm mit dem Schild an der linken Seite und der Schwerthand flach am Oberschenkel. Lady Margaret ging an seiner Seite. Sie war eine ältere Dame von um die Siebzig, doch ihre Bewegungen waren flink und anmutig. Sie trug ein langes orangefarbenes Seidenkleid mit gleichfarbigem Umhang. In der rechten Hand hatte sie einen langen Zauberstab aus Buche, mit einem leuchtend orangefarbigen, quadratischen Turmalin an der Spitze, welcher von ihrem königsblauen Haar überragt wurde. Siegmund und Lady Margaret waren in ein Gespräch vertieft.
»Sobald Ihre Bediensteten hindurch sind, werde ich das Portal wieder schließen, damit ich nach Hause zurückreisen kann.«
»Ihr bleibt nicht über Nacht?«, fragte der Großherzog.
»Nein, Mike und ich haben genug um die Ohren.«
»Also keine Fortschritte.«
»Leider immer noch nicht.« Lady Margaret schüttelte den Kopf. »Die Ermittlungen stocken, als ob er vom Erdboden verschluckt wäre. Es ist zum verzweifeln.«
Siegmund nickte ernst. »Das tut mir Leid.«
»Danke. Diese Ungewissheit ist das Schlimmste.« Lady Margaret seufzte. Sie schwiegen und sahen am Schlossgebäudes vor sich empor bis zur Baustelle des unfertigen Dachstuhls. Die Geräusche der großherzoglichen Diener durchbrach die Stille zwischen den beiden.
Nach einer ganzen Weile kam Volker vorbei mit Vigor im Schlepptau, der sich sehr unsicher fühlte. Der kleinere Junge sah sich ständig um, nicht wissend wo er war, was man von ihm erwartete und was er hier eigentlich sollte. Volker trat von hinten an seinen Vater heran, um zu verkünden, dass sie alle durch waren. Volker hatte die Zeit verbummelt und war daher der letzte.
»Es ist hart jemanden zu verlieren«, meinte Lady Margaret schließlich. Volker stockte und hielt Vigor mit der Hand vor der Brust zurück. Vigor sah ihn fragend an.
»Ihr habt mein vollstes Mitgefühl«, erwiderte der Großherzog.
»Wenn jemand das versteht, dann Ihr.«
Volker hatte es befürchtet: das Thema. Er zog den sich widerstrebenden Vigor schleunigst fort.
»Ein verlorenes junges Leben«, seufzte Lady Margaret.
Vigor schüttelte den Kopf. Er wollte gar nicht weg. Erst Volkers alarmierender Blick überzeugte ihn. Vielleicht half auch, dass der große Junge zog, als würde Vigor wieder im Schlamm stecken.
»Es ist das Kreuz, wenn man sich einem Kind annimmt«, erzählte Lady Margaret. »Man öffnet ihm sein Herz. Und wenn dann etwas schief geht, dann ist man verwundbar.«
Siegmund schüttelte den Kopf. »Es konnte ja keiner ahnen, dass man dem Bub etwas antun wollte.«
»Wie könnte man auch. Er war doch so ein netter Junge.«
Volker zog Vigor außer Hörweite in einen Seiteneingang. Vigor riss sich los. »Sag mal, was ist mit dir denn los?«
»Was bleibst du da stehen?«, erwiderte Volker.
Vigor zuckte mit den Achseln. Volker verschränkte die Arme. »Ich will nicht von traurigen Eltern gehätschelt werden.«
Vigor grinste, das war es also. Er versuchte eine besonders tiefe Stimme. »Aber wenigstens haben wir noch unseren Volker. Er ist unser ganzer Stolz.«
Er stellte sich auf die Zehenspitzen und tätschelte dem großen Jungen den Kopf. Volker sah ihn an. »Und seinen netten Vigor-Freund. Der ist so klein und süß.«
Volker kniff Vigor in die zarte Wange. Vigor zog den Kopf weg. »Lass mal stecken.«
»Sag ich doch, dass will doch wirklich keiner.«
»Hast du dich deswegen im Schloss so herumgedrückt? Von wegen Schlüssel suchen und so.«
Volker deutete auf die Tür. »Los, lass uns was zwischen die Zähne kriegen.«
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