Mama schrieb dazu:
Mein liebes Lenchen! Deine Stelle in Streckentin musst Du unter allen Umständen zum 1. Oktober kündigen, ob Du nun so oder so das Examen machst. In den großen Ferien besprechen wir dann in Ruhe und nach allen Seiten hin die Sache. Dass ich alles tun will Dir Deine Wünsche zu erfüllen weißt Du, und selbst, wenn uns Papa, was Gott verhüten möge, früher verlassen sollte, als wir glauben, wird es mir immer möglich sein, die Kosten für Dein Studium zu bestreiten.
Das Baumkuchenrezept lege ich bei, so wie ich es Frau J. abgesehen habe, sie wollte es mir geben.
Gestern habe ich Zeug zu einer weißen Bluse gekauft, was sagst Du dazu? Mit herzlichen Grüßen, auch an Frau Steinert Deine tr. Mutter M. Wüst
Unser Garten ist ein Blütenmeer!
Lene lächelte liebevoll über solche Briefe, aber sie war jetzt alt genug, um die nachdenklichen Äußerungen zu verstehen. Die Eltern waren nicht mehr die Jüngsten, Papa bereits 65 Jahre alt, Mama 58. Im nächsten Jahr würde Papa wohl in den Ruhestand gehen. Die Hauptsorge der beiden angesichts ihres Alters war natürlich, ihre Kinder, auch die Jüngste, in gesicherten Verhältnissen zu wissen. Hauptsächlich aber sprachen die Briefe von uneingeschränkter Liebe gegenüber ihrer jüngsten, oft wohl verwöhnt anmutenden Tochter. Zugegeben, manchmal kam sie sich selbst immer noch wie das verhätschelte Nachkömmlings-Töchterchen vor, das seit jeher daran gewöhnt war, immer als etwas Besonderes zu gelten. Zumindest in der Familie. Und sonst auch? Ihre eigenen Ansprüche waren nicht gerade bescheiden, das sah sie ein. Aber konnte sie etwas für ihren ererbten, energischen Dickkopf?
Sie kündigte zum Oktober 1909.
„Sie hat in dieser Zeit ihre Schülerin in der sechsten Klasse zu unserer vollen Zufriedenheit unterrichtet und hat es verstanden sich durch ein bescheidenes und entgegenkommendes Wesen die Zuneigung ihrer Hausgenossen zu erwerben. Wir sehen sie ungern scheiden und wünschen ihr für ihre Pläne das Beste“, so hieß es in Lenes Abschiedsbescheinigung.
Mutter freute sich, dass ihre Jüngste wieder nach Osterode ins alte Zuhause kam. Zwar nicht in ihre Küche, nicht um hier Haushaltung zu lernen, sondern an den Schreibtisch, um sich wiederum in die Bücher zu stürzen. Genauer gesagt: in die lateinischen, denn da wurde ein gewisses Pensum fürs Abitur verlangt. Wozu hatte Lene einen gelehrten Vater? Mit seiner Hilfe klappte das natürlich bestens.
Am 30. März 1910 attestierte er das offiziell:
„Meine Tochter Maria Magdalena Wüst, die während ihres dreijährigen Aufenthalts auf dem Lehrerinnen-Seminar zu Elbing an dem dort erteilten wahlfreien lateinischen Unterricht regelmäßig teilgenommen hat, ist während der Ferien und im letzten Halbjahre täglich in einer Stunde im Lateinischen von mir unterrichtet worden. Sie hat die lateinische Schulgrammatik von H. J. Müller durchgearbeitet und eine große Anzahl von Stücken aus Ostermanns Übungsbuch (Tertia und Untersekunda der Realgymnasien) aus dem Deutschen ins Lateinische schriftlich oder mündlich übersetzt. Von lateinischen Schriftstellern hat sie gelesen 1. Cornelius Nepos, 2. Caesar, 3. Ovid, 4. Livero pro imperis Cn. Pompei, 5. Livius, Abschnitte aus dem 21. Buche, 6. Vergil, Abschnitte aus dem 2. Buche.
Gymnasialdirektor Dr. Wüst,
Geh. Reg. Rat.
Lieber Vater, er war wirklich unentbehrlich. Und Mutter füllte den Bauch mit gutem Essen, sorgte für Einkäufe, Sauberkeit, Gemütlichkeit und Wohlbehagen. Bessere Eltern konnte es nicht geben.
Das Städtische Realgymnasium zu Königsberg Preußen wartete auf sie. Und Lenchen, - nein, die kluge, große Magdalena -, verlor keine Zeit. Königsberg war das Größte, wusste sie. Und dorthin ging ihr Weg jetzt. Wieder packte sie ihre Siebensachen.
Während ihrer Königsberger Zeit wurde der gute Papa in Osterode in den Ruhestand versetzt. Bereits im Oktober 1910 wurde er aus dem Amt entlassen, und im Mai 1911 dann mit allen Ehren, großartigen Danksagungen, Reden, Geschenken, Fackelzug der Oberstufenschüler, mit Tränen des Kollegiums und unvergesslichen Erinnerungsgeschenken offiziell pensioniert. Die Eltern zogen nach Jena.
Lene aber war zunächst in Königsberg und lernte und lernte, dass ihr der Kopf rauchte. Abwechselnd saß sie am Schreibtisch über den Büchern, dann wieder lief sie im Sturmschritt draußen durch Straßen und Parks, den Kopf gesenkt, und rekapitulierte und festigte das Gelesene vor sich hin murmelnd im Kopf.
Sie brauchte nicht lange, verschwendete keine unnötige Zeit mit irgendwelchen anderen Dingen. Bereits nach zwei Monaten war es geschafft und das Abitur bestanden.
Sie wurde „durch Privatunterricht vorbereitet und durch Verfügung des Königlichen Provinzial-Schulkollegiums zu Königsberg Preußen vom 28. Dezember 1910 dem hiesigen Städtischen Realgymnasium zur Reifeprüfung überwiesen“. So hieß es im dreiseitigen, ausführlichen „Zeugnis der Reife“ vom 21. Februar 1911. In Deutsch bestand sie mit „gut“: „In der mündlichen Prüfung wusste sie über Lessing als Reformator des Dramas, über Schiller und die Schicksalsdramatiker, über König Ödipus und Grillparzers „Sappho“ genügende Auskunft zu geben. Dagegen war der Prüfungsaufsatz nach Form und Inhalt durchaus gut zu nennen, sodass das Gesamtprädikat gut sein kann.“
In allen übrigen Fächern bekam sie ein „genügend“, nämlich in
Religionslehre: Mit befriedigendem Verständnis für das Wesen des evangelischen Schriftentums verband sie ausreichende Kenntnisse in der Kirchengeschichte und Bibelkunde.
Latein: Die Prüfungsarbeit war genügend. Die in der mündlichen Prüfung aus Cicero de imperio Cn . Pompei vorgelegte Stelle vermochte sie mit hinreichender Sicherheit zu übersetzen und zu erklären.
Französisch: Die schriftliche und mündliche Prüfung zeigten, dass sie hinreichende Sicherheit im Gebrauche der französischen Sprache besitzt. Auch mit einigen Hauptwerken der Literatur ist sie vertraut.
Englisch: die ihr vorgelegte Stelle aus Macanlay: „Hallam’s constitutional History“ übersetzte sie mit hinreichender Gewandtheit und konnte die ihr aus der Grammatik und Synoptik gestellten Fragen genügend beantworten.
Geschichte und Geographie: Die Prüfung in der Geschichte bezog sich auf die Entwicklung der deutschen Frage im 19, Jahrhundert. In der Erdkunde sind ihre Kenntnisse „nicht genügend“.
Physik: Ihre schriftliche Prüfungsarbeit war genügend.
Chemie: Ihre Kenntnis der wichtigsten chemischen Gesetze genügte.
Die unterzeichnete Prüfungs-Kommission hat ihr demnach, da sie jetzt neuere Sprachen studieren will, das Zeugnis der Reife zuerkannt.“
Das wollte sie tatsächlich: studieren. Es war nicht üblich, nein, ganz und gar nicht. Aber der Reiz war deshalb umso größer.
Die Eltern gaben sich skeptisch: Auch das noch? Dem guten Papa standen sicherlich die wenigen, verbliebenen Haare zu Berge, als er erfuhr, dass seine Jüngste dieses Ansinnen tatsächlich wahr machen wollte. Warum konnte sich das gute Kind denn nicht endlich zufriedengeben und einen netten Mann heiraten? Davon gab es doch genug Exemplare zur Auswahl, die sie umschwärmten. Warum ließ sie die liebenswürdig lächelnd links liegen?
Aber das kümmerte Lenchen nicht die Bohne. Warum hatte sie denn Abitur machen wollen und es auch im Eiltempo bestanden? Stand ihr nicht ein Studium offen? Bereits am 11. Mai hielt sie die Immatrikulation an der Universität Jena in Händen und war Studentin der Philologie und Germanistik.
Der Porzellanhund
Wenn Lene an das Jahr 1936 zurückdachte, so war das im Hinblick auf die