Soeben haben sie wieder einen scharfen Streit gehabt und sitzen jetzt einander gegenüber im Fenster und nähen an einer schwarzen Seidenmantille mit einem Eifer, den ihr nicht ganz ausgebrauster Zorn beflügelt. Die Mantille braucht erst morgen fertigzuwerden, wird es aber gewiß heute noch, wenn die Furie anhält, mit der Vater und Tochter die Nadel führen.
Inzwischen hat sich das Dachfenster über der Schneiderwerkstätte geöffnet; eine Frau und eine Katze sind an demselben erschienen, beide wohlgenährt und weißhaarig. Die Katze schleicht zur Morgenpromenade auf das Dach hinaus, bleibt öfters stehen und wirft begehrliche Raubtierblicke nach den Tauben, die von Fräulein Lotti gefüttert werden. – Wer eine von euch erwischen könnte! denkt sie. Saubere Weltordnung, in der wir leben! – Gäb's eine Gerechtigkeit – ich hätte Flügel!
Frau Katze schüttelt den Kopf, schließt die Augen, leckt die fadendünnen Lippen und gähnt wie ein Tiger.
Ihre Gebieterin hakt den Fensterflügel ein, damit die Spaziergängerin bequem eintreten könne, wenn es ihr genehm sein würde heimzukehren. Die Rückkunft ihres Lieblings kann die Bewohnerin der Dachstube nicht abwarten, sie muß an ihren Posten, in den kleinen Laden im Durchhause nebenan, wo sie im Winter altgebackenes Brot, im Sommer auch Obst feilbietet und zu allen Jahreszeiten Näschereien, die ihre Katze verschmähen würde, die aber an den Schulkindern beharrliche Abnehmer finden.
Fräulein Lotti sandte bereits viele Grüße zu der dicken Frau empor, die so freundlich aussah wie des Teufels Großmutter und sich's lange überlegte, bevor sie mit einem kaum merkbaren Nicken dankte. Aber auch damit ist Lotti zufrieden. An Zuvorkommenheit von Seite der Frau Brotsitzerin wurde sie nie gewöhnt und hat auch kein besonderes Herzensbedürfnis danach. Sie wünscht nur, konservativ wie sie einmal ist, daß alles beim alten bleibe und daß sie sich täglich sagen könne, was die Potentaten jährlich einmal in ihren Thronreden sagen: »Unsere Beziehungen zu den Nachbarstaaten sind die freundschaftlichsten.«
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Lotti schloß ihren unersättlichen Tauben das Fenster vor den Schnäbeln zu und zog sich in das Zimmer zurück. Auf einem Tischchen, in der Nähe des Kamins, hatte Agnes, die goldene Säule des kleinen Haushalts, schon alle Vorbereitungen zum Tee getroffen. Lotti begann nun, ihn zu bereiten. Dabei musterte sie ab und zu ihr Stübchen mit wohlgefälligen Blicken.
Je länger sie es bewohnte, desto gemütlicher erschien es ihr, desto mehr mußte sie selbst die geschickte Benützung des Raumes bewundern, die es möglich gemacht, so viele Tische, Schränke und Schränkchen in dem schmalen Zimmer unterzubringen. Sehr frei bewegen konnte man sich darin freilich nicht, am wenigsten dann, wenn zufällig mehrere Schranktüren zu gleicher Zeit offenstanden. Doch – was lag daran? Lotti empfing ja keine Gäste, hatte auch für solche nicht vorgesorgt. Außer dem Fauteuil, den sie bei ihren Mahlzeiten benützte, war nur noch ein Sitzmöbel vorhanden, ein altdeutscher, geschnitzter Holzsessel, ein wahrer Ausbund von Schwerfälligkeit. Er überragte, kaum beweglicher als ein Berg, einen Arbeitstisch, auf dem mehrere zerlegte Uhrwerke unter Glasglocken und alle erdenklichen Uhrmacherwerkzeuge lagen. Auf der linken Seite des Fensters, in der dunklen Ecke, welche das Zimmer dort bildete, befand sich ein großer, bis an die Decke reichender Schrank. Der glich einer gotischen Kapelle, war aber ein Schreibtisch, sehr schön, sehr merkwürdig und sehr unbequem – der Schreibtisch einer Person, die nicht schreibt. Um so zweckmäßiger war der niedrigere Bücherschrank, der den größten Teil der Längenwand, dem Eingange zu Agnesens Zimmer gegenüber, einnahm. Schlanke Säulen mit korinthischen Kapitälchen verzierten die Glastüren des Aufsatzes, hinter dessen blanken Scheiben eine sehr gemischte Gesellschaft friedlich beisammen wohnte.
Da standen Schillers Werke in einem Bande, im allerdings ziemlich abgenützten Prunkgewand aus rotem Saffian, neben zwei kleinen dicken Büchlein in schweinsledernen Schlafröckchen, den Mémoires du Maréchal de Bassompierre. Goethes Benvenuto Cellini hatte zwei ganz unähnliche Nachbarn, Dom Jacques Martins Histoire des Gaules und ein ehrwürdiges Inkunabel: Unser lieben frawen psalter, gedruckt zu Augspurg. Von Luca Zeisselmair. Am mitwoch nach Jakobi. In dé iar als man zelet 1495. Gibbons Geschichte des Verfalles des römischen Reiches blickte gnädig auf den Herrn Quintus Fixlein herab, Krummachers Parabeln lehnten sich mit naiver Zutraulichkeit an die Annalen des Tacitus. Lessings Laokoon war durch ein Versehen mitten hineingeraten zwischen den Barometermacher auf der Zauberinsel und die Familie von Halden; Prinz von Gotland, der Bramarbas und Himmelstürmer, hielt sich ruhig neben dem weisen Pascal. Viele Klassiker der Weltliteratur, alte und neue, fanden sich durch irgendein Hauptwerk vertreten; vollständig vorhanden jedoch waren alle Lehrbücher der Uhrmacherkunst. Ihre lange majestätische Reihe wurde durch Hieronymus Cardani (1557) eröffnet und schloß mit M.L. Moinets Traité général d'Horlogerie.
Kein einziges von allen diesen Büchern war seiner Eigentümerin ganz fremd, mit manchen stand sie auf dem vertrautesten Fuße, und gerade in diese vertiefte sie sich mit dem größten Vergnügen immer von neuem. Denn, meinte sie, ein schönes Buch nicht wiederlesen, weil man es schon gelesen hat, das ist, als ob man einen teuren Freund nicht wieder besuchen würde, weil man ihn schon kennt.
Übrigens – ein gutes Buch, einen guten Freund, die lernt man nicht aus. Ein weises Buch ist ebenso unergründlich wie ein großes Menschenherz.
Viele dieser Werke besaßen außer ihrem eigenen auch noch einen besonderen, für Lotti unschätzbaren Wert. Sie waren mit Randbemerkungen von der Hand eines Mannes versehen, der ihr unter allen Lebenden am Höchsten gestanden – ihres Vaters.
Sie meinte ihn sprechen zu hören, wenn sie die kurzen zierlich geschriebenen Sätze, Früchte reiflicher Überlegung und solider Fachkenntnis, überlas.
Meister Johannes Feßler hatte nicht zu den Leuten gehört, die einen Gedanken deshalb schon für gut halten, weil er in ihrem Kopf entstanden ist. Das Handwerk, das er ein halbes Jahrhundert hindurch getrieben, hatte ihn gelehrt, dreißig »vielleicht« und »ich glaube« leichter auszusprechen als ein »so ist's«, oder ein »das steht fest«.
Ein gewissenhafter Uhrmacher, wie er gewesen, ein Mann, der so oft erfahren hatte, daß am Ende einer Reihe scheinbar richtiger Schlüsse ein Irrtum lauern kann, der hütet sich wohl, leichtsinnig Behauptungen aufzustellen. Dafür haben die seinen aber auch bei allen Leuten, die es verstehen, einen Ausspruch auf dessen Feingehalt an Wahrheit zu prüfen, ihr gehöriges Gewicht.
Aus den Randglossen des Meisters ließ sich erkennen, wie ernst es ihm war mit seinem Beruf und welche Liebe er für denselben gehegt. Man sah es wohl, was er auch gelesen hatte, wie sehr ein Buch seine Aufmerksamkeit gefesselt haben mochte, seines Handwerks hatte er dabei nie vergessen. Niemals war ein bemerkenswertes Ereignis in der Geschichte der Menschen zu seiner Kenntnis gekommen, ohne daß er gesucht hätte, es mit einem ebensolchen in der Geschichte der Uhren in Verbindung zu bringen. So befand sich zum Beispiel in einem historischen Werke, an einer Stelle, wo die Rede war vom Tode Kaiser Rudolfs von Habsburg, von Feßlers Hand die Anmerkung: In demselben Jahre erhielt die Kirche von Canterbury eine Schlaguhr, für welche dreißig Pfund Sterling bezahlt wurden. Weiter, als der Goldenen Bulle Erwähnung geschah, hatte der Meister seinerseits erwähnt: Gleichzeitig ehrte die Stadt Bologna sich selbst, indem sie die erste öffentliche Uhr aufstellen ließ. – Noch weiter: Eduard III. entsagt seinen Ansprüchen auf den französischen Thron – und – fügte Feßler hinzu – erteilt dreien Uhrmachern aus den Niederlanden Schutzbriefe, damit sie nach England kommen können. Anno 1368. In demselben Geschichtswerke war der Beiname König Karls V., der Weise, nachdrücklich unterstrichen und daneben stand: Muß, wie der gleichnamige große deutsche Kaiser, eine besondere Freude an den Werken der Uhrmacherkunst gehabt,