Sir Leicester Dedlock ist nur Baronet, aber es gibt keinen mächtigeren Baronet als ihn. Seine Familie ist so alt wie die Hügel von Lincolnshire, nur unendlich vornehmer. Er ist der Überzeugung, daß die Welt ganz gut ohne Hügel und Berge bestehen könnte, ohne Dedlocks jedoch zugrunde gehen müßte. Er gibt im allgemeinen zu, daß die Natur eine gute Einrichtung ist – ein wenig ruppig zwar, wenn sie nicht von einem Parkzaun umschlossen wird –, aber eine Einrichtung, die in ihrer Gestaltung ganz von den großen Familien der Grafschaft abhängt. Er ist ein Gentleman von strengster Gewissenhaftigkeit, verachtet alle Kleinlichkeit und Niedrigkeit und ist bereit, bei der geringsten Veranlassung eher jeden beliebigen Tod zu sterben als den kleinsten Flecken auf seinem Ruf zu dulden. Er ist ein ehrenwerter, halsstarriger, wahrheitsliebender, stolzer Mann voll krasser Vorurteile, und vollkommen unvernünftig.
Sir Leicester ist volle zwanzig Jahre älter als Mylady. Fünfundsechzig erlebt er nicht noch einmal, vielleicht auch nicht sechs- oder siebenundsechzig. Er hat von Zeit zu Zeit einen Gichtanfall, und sein Gang ist ein wenig steif. Er ist eine vornehme Erscheinung mit seinem grauen Haar und Backenbart, dem feinen Spitzenhemd, der tadellos weißen Weste und dem hochgeschlossenen blauen Frack mit den glänzenden Knöpfen. Er ist sehr förmlich, zu allen Zeiten gegen Mylady ausnehmend höflich und zollt ihren persönlichen Reizen die höchste Anerkennung. Seine Galanterie gegen die Gnädige ist sich seit dem Brautstande unverändert gleichgeblieben und bildet die einzige kleine Stelle Romantik und Poesie in ihm.
Er hat sie aus Liebe geheiratet. Man flüstert sich sogar zu, daß sie nicht einmal von »Familie« sei, aber Sir Leicester hatte für beide »Familie« genug, und sie besaß Schönheit, Stolz, Ehrgeiz, Arroganz und Verstand genug, um es mit einer ganzen Legion vornehmer Damen aufzunehmen. Reichtum und Rang mit diesen Gaben vereint setzten sie bald an die Spitze, und seit Jahren hat Lady Dedlock den Mittelpunkt der vornehmen Welt gebildet und in der Mode die Führung an sich gerissen.
Daß Alexander der Große Tränen vergoß, als er keine Welten mehr zu erobern hatte, weiß jedermann oder sollte es wenigstens wissen, denn der Umstand wird häufig genug erwähnt. Als Lady Dedlock ihre Welt eroberte, verriet ihre Temperatur mehr den Gefrier- als den Schmelzpunkt. Eine erschöpfte Gelassenheit, eine müde Ruhe, ein gelangweilter Gleichmut, die sich weder durch Interesse noch durch Befriedigung stören ließen, waren ihre Siegestrophäen. Sie ist durch und durch vornehm. Wenn sie morgen in den Himmel versetzt werden sollte, würde sie fraglos ohne die mindeste Verzückung emporschweben.
Sie ist immer noch schön, und wenn auch nicht mehr in der Blüte, so doch nicht in ihrem Herbst. Sie hat ein feines Gesicht; der Naturanlage nach sind ihre Züge eher sehr hübsch als schön zu nennen, aber der angelernte Ausdruck der vornehmen Weltdame verleiht ihnen etwas Klassisches. Ihre Figur ist elegant und macht den Eindruck von Schlankheit. Nicht, daß sie wirklich so ist, aber alle ihre Vorzüge sind gut herausgearbeitet, wie Bob Stables hochwohlgeboren wiederholt auf Eid versichert hat. Derselbe Gewährsmann bemerkt, daß sie tadellos aufgezäumt sei, und sagt lobend von ihrem Haar, sie sei die bestgestriegelte Frau im ganzen Gestüt.
Mit allen ihren Reizen ist Lady Dedlock von ihrem Landsitz in Lincolnshire, Schritt für Schritt von den Fashionabeln der Modezeitung verfolgt, eingetroffen, um einige Tage in ihrer Stadtwohnung zu verweilen, bevor sie nach Paris reist, wo sie einige Wochen zu bleiben gedenkt.
In ihrer Stadtwohnung stellt sich an diesem trüben Nachmittag ein altmodischer alter Gentleman ein, Attorney und Solizitor beim hohen Kanzleigericht, der die Ehre hat, Rechtsanwalt der Dedlocks zu sein, und viele eiserne Kästen mit diesem Namen darauf in seiner Kanzlei aufzuweisen hat. Durch die Vorhalle die Treppen hinauf, die Korridore entlang und durch die Zimmer, die in der Saison sehr glänzen und außer der Zeit sehr unwirtlich sind – ein Feenland für den Besucher und eine Wüste für den Bewohner –, führt den alten Herrn ein Merkur mit gepudertem Kopf zu der Gnädigen.
Der alte Herr sieht ein wenig verrostet aus, steht aber in dem Rufe, durch Heiratsverträge und Testamente für den Adel viel Geld erworben zu haben und sehr reich zu sein. Ein undurchdringlicher Nebel von Familiengeheimnissen, als deren stummen Bewahrer man ihn kennt, umgibt ihn. Es gibt adlige Mausoleen, die seit Jahrhunderten in abgelegenen Parkalleen unter uralten Bäumen und wucherndem Farnkraut stehen und vielleicht weniger Familiengeheimnisse bewahren, als in Mr. Tulkinghorns unter Menschen wandelnder Brust verborgen sind.
Er gehört der alten Schule an, das heißt, der Schule, die niemals jung gewesen ist, und trägt kurze Hosen, die an den Knieen mit Bändern befestigt sind, und Gamaschen oder Strümpfe. Die Eigentümlichkeit seiner schwarzen Kleider und Strümpfe, mögen sie von Seide oder Wolle sein, ist, daß sie nie glänzen. Stumm, verschlossen, ohne Antwort für ein neugieriges Licht, ist sein Anzug wie er selbst. Er unterhält sich nie, wenn man ihn nicht in Berufssachen zu Rate zieht. Man findet ihn zuweilen stumm, aber zwanglos und ganz zu Hause am Eck der Gasttafeln in vornehmen Landschlössern oder nicht weit von Salons sitzen, von denen die Modezeitung so viel zu reden hat. Jedermann kennt ihn dort, und der halbe Hochadel bleibt mit den Worten stehen: »Wie geht's Ihnen, Mr. Tulkinghorn?« Er nimmt die Begrüßung mit Ernst entgegen und begräbt sie neben all dem übrigen, was er weiß.
Sir Leicester Dedlock ist in Gesellschaft der Gnädigen und schätzt sich glücklich, Mr. Tulkinghorn zu empfangen. Es liegt etwas Vorschriftsmäßiges in Mr. Tulkinghorns Benehmen, das Sir Leicester immer sehr angenehm berührt und ihn wie eine Art Tribut anmutet. Er findet auch an Mr. Tulkinghorns Anzug Gefallen und sieht auch darin eine Art Huldigung. Er ist ungemein respektabel geschnitten und hat etwas Sachwalterhaftes. Er ist fast wie die Livree eines Aufsehers der Rechtsmysterien oder eines juristischen Kellermeisters.
Ist sich Mr. Tulkinghorn selbst darüber klar? Es kann sein, kann aber auch nicht sein. Und doch ist diese Frage bei allem, was mit Lady Dedlock als der Führerin und dem Glanzstern der vornehmen Welt in Berührung kommt, von großer Bedeutung. Sie hält sich für ein unerforschliches Wesen, das weit über der Beurteilungssphäre gewöhnlicher Sterblicher steht. So kommt sie sich im Spiegel vor, in dem sie auch wirklich so aussieht. Dennoch kennt jeder kleine Stern, der sich um sie dreht, von der Kammerzofe an bis zum Direktor der italienischen Oper, ihre Schwächen und Vorurteile, ihren Hochmut, ihre Torheiten und Launen und richtet sich in seinem Verkehr mit ihr nach ihren Charakterzügen, wie die Putzmacherin nach ihren Körperproportionen. Je nachdem es gilt, eine neue Mode, einen neuen Kleidungsschnitt, eine neue Sitte, einen neuen Sänger, eine neue Tänzerin, einen neuen Schmuck, einen Zwerg, einen Riesen, eine Kapelle oder sonst etwas in Mode zu bringen.
Es gibt ehrerbietige Leute in Dutzenden von Berufen, von denen allen Lady Dedlock glaubt, sie lägen beständig auf den Knien vor ihr, und die dabei genau wissen, daß sie wie ein Kind zu leiten ist; – Leute, die ein ganzes Leben lang an nichts denken als wie man ihr schmeicheln kann und die sich stellen, als seien sie demütig und unbedingt gehorsam, dabei aber sie und ihr ganzes Gefolge im Schlepptau haben, mit ihr wie mit einem Köder angeln und sie führen, wohin sie wollen, wie Lemuel Gulliver die stattliche Flotte des Reichs Liliput nach Belieben dirigierte.
»Wenn man bei dieser Sorte reüssieren will«, sagen Blaze & Sparkle, die Juweliere – und sie verstehen unter »dieser Sorte« Lady Dedlock und ihren Anhang –, »so darf man nicht vergessen, daß man es nicht mit dem großen Publikum zu tun hat; man muß »diese Sorte« an ihrer schwächsten Seite fassen, und ihre schwächste Seite ist diese und diese.«
»Um Ihre Artikel abzusetzen, meine Herren«, raten Sheen & Gloß, die Tuchhändler, ihren Freunden, den Fabrikanten, »so müssen Sie zu uns kommen, weil wir die Leute der feinen Gesellschaft zu behandeln wissen und dadurch die Mode bestimmen können.«
»Wenn Sie diesen Kupferstich bei meiner hochgestellten Kundschaft anbringen wollen, Sir«, sagt Mr. Sladdery, der Kunsthändler, »oder wenn Sie diesen Zwerg oder Riesen zu deichseln wünschen oder für diese Unternehmung der Unterstützung meiner hohen Kunden bedürfen, so müssen Sie mir das überlassen, denn ich kenne die führenden Personen in diesen Kreisen, Sir, und kann Ihnen, ohne zu übertreiben, sagen, daß ich sie um den Finger wickeln kann«, – worin Mr. Sladdery, der ein ehrenwerter Mann ist, durchaus nicht übertreibt.
Wenn daher Mr. Tulkinghorn wirklich nicht wissen sollte, was gegenwärtig in der Seele der Gnädigen