Krook antwortet: »Sie könnten ebensogut von mir verlangen, Ihnen die Damen zu beschreiben, deren Haar ich unten im Keller in Säcken habe. Ich weiß nicht mehr von ihm, als daß er anderthalb Jahre lang mein Mieter war und vom Abschreiben für Advokaten lebte – oder nicht lebte.«
Während dieses Zwiegesprächs hat Mr. Tulkinghorn abseits neben dem alten Mantelsack gestanden, die Hände auf dem Rücken und allem Anschein nach gleich unendlich fern von all den drei verschiedenen Arten von Teilnahme, die neben dem Bett an den Tag gelegt wurden – von dem Interesse des jungen Mannes an der Leiche als Arzt und seiner Teilnahme für den Verstorbenen als Mensch –, von des alten Mannes lüsternem Genuß an der Schrecklichkeit des Vorfalls – und von dem Grauen der verrückten kleinen Alten vor der Leiche. Sein unbewegliches Gesicht blieb so ausdruckslos wie das rostige Aussehen seiner Kleider. Er scheint die ganze Zeit über an nichts gedacht zu haben. Er hat weder Geduld noch Ungeduld, weder Aufmerksamkeit noch Zerstreutheit gezeigt. Nur die äußere Schale ist zu sehen gewesen. Ebensowenig hätte man auf den Ton eines Musikinstrumentes aus dem Gehäuse schließen können.
Er mischt sich jetzt hinein, redet den jungen Mann in seiner teilnahmslosen, geschäftsmäßigen Weise an.
»Ich kam einen Augenblick vor Ihnen hierher«, bemerkt er, »mit der Absicht, dem Verstorbenen, den ich als Lebenden nicht gekannt habe, einige Kopierarbeiten zu geben. Ich erfuhr seine Adresse von meinem Papierhändler Snagsby in Cook's Court. Da niemand hier etwas von dem Toten weiß, wäre es vielleicht gut, nach Snagsby zu schicken. – Ah!« sagt er zu der verrückten kleinen Alten, die er oft im Kanzleigericht gesehen zu haben sich erinnert. »Ja, vielleicht holen Sie ihn«, sagt er, da sie sich in erschrecktem stummem Gebärdenspiel erbötig macht, den Papierhändler zu holen.
Während sie fort ist, gibt der Arzt die Untersuchung als hoffnungslos auf und deckt den Toten mit der Flickendecke zu. Mr. Krook und er wechseln ein paar Worte miteinander. Mr. Tulkinghorn spricht kein Wort und steht immer noch neben dem alten Mantelsack.
Mr. Snagsby erscheint in aller Eile in seinem grauen Kittel mit den schwarzen Schreibärmeln.
»Mein Gott, mein Gott!« sagt er. »Ist es also endlich dazu gekommen! Gott soll einen Menschen behüten!«
»Können Sie dem Hauswirt hier irgendeine Auskunft über den Unglücklichen geben, Snagsby?« fragt Mr. Tulkinghorn. »Er war angeblich mit seinem Zins im Rückstand. Und er muß doch begraben werden.«
»Hm, Sir«, meint Mr. Snagsby und läßt hinter seiner Hand ein verlegenes Hüsteln hören. »Ich wüßte wirklich nicht, welchen Rat ich geben könnte, außer, daß man nach dem Kirchendiener schicken sollte.«
»Ich spreche nicht von Rat«, lehnt Mr. Tulkinghorn ab. »Ich könnte ja selbst raten...«
»Niemand besser, Sir, selbstverständlich«, entschuldigt sich Mr. Snagsby mit seinem ehrerbietigen Husten.
»Ich meine, ob man nicht etwas über seine Verwandten oder woher er stammt oder über seine sonstigen Verhältnisse erfahren könnte?«
Mr. Snagsby schickt seiner Antwort einen allgemein versöhnlichen Husten voraus und sagt:
»Ich versichere Ihnen, Sir, ich weiß ebensowenig, woher er gekommen ist, als ich weiß...«
»Wohin er gegangen ist«, unterbricht ihn der Arzt, nachhelfend.
– Pause. –
Mr. Tulkinghorn sieht den Schreibmaterialienhändler an. Mr. Krook sieht mit offenem Munde von einem zum andern, erwartungsvoll, wer wohl jetzt etwas sagen werde.
»Was seine Verwandten betrifft, Sir«, fährt Mr. Snagsby fort, »wenn jemand zu mir spräche: Snagsby, hier liegen zwanzigtausend Pfund für Sie in der Bank von England bereit, wenn Sie mir auch nur einen von ihnen nennen, so könnte ich es nicht, Sir. Vor ungefähr anderthalb Jahren, soweit ich mich erinnern kann, und um die Zeit, wo er in den Althändlerladen hier eingezogen ist...«
»Um die Zeit war es«, bestätigt Krook mit einem Kopfnicken.
»Vor ungefähr anderthalb Jahren«, fährt Mr. Snagsby ermutigt fort, »kam er eines Morgens nach dem Frühstück in mein Geschäft, fand dort meine kleine Frau, legte ihr eine Probe seiner Handschrift vor und sagte ihr, er suche Abschreibearbeit zu bekommen. Und daß er – um nicht durch die Blume zu sprechen« – ein Lieblingsausdruck Mr. Snagsbys, wenn er keine Umstände machen und frei herausreden will – »und daß er sehr in Not sei. Meine kleine Frau hat für gewöhnlich keine besondere Vorliebe für Fremde, besonders – um nicht durch die Blume zu sprechen –, wenn sie etwas haben wollen. Aber irgend etwas an dem Mann mußte doch ihr Interesse erregt haben; ob er unrasiert war oder wild und ungekämmt aussah oder sonst etwas an sich hatte, was Damen interessiert, überlasse ich Ihnen zu beurteilen, aber sie nahm die Probe an und auch die Adresse. Meine kleine Frau hat kein gutes Ohr für Namen«, fährt Mr. Snagsby fort, nachdem er mit seinem rücksichtslosen Husten hinter der vorgehaltnen Hand zu Rate gegangen ist, »und sie verwechselte Nemo mit Nimrod. Sie hat sich deshalb angewöhnt, bei Tisch zu mir zum Beispiel zu sagen: Snagsby, hast du noch immer keine Arbeit für Nimrod? Oder: Snagsby, warum hast du die achtunddreißig Folioseiten in Sachen Jarndyce nicht Nimrod gegeben? Und so weiter. Auf diese Art bekam er nach und nach ziemlich regelmäßig Arbeit von uns, und das ist alles, was ich von ihm weiß, außer, daß er sehr rasch schrieb und sich aus Nachtarbeit nichts machte. Wenn man ihm zum Beispiel fünfundvierzig Folioseiten Mittwoch abends gab, hatte er sie schon Donnerstag früh fertig.« Mr. Snagsby schließt seine Rede mit einer höflichen Bewegung seines Hutes nach dem Bette hin, als wollte er hinzusetzen, – »was alles ohne Zweifel mein ehrenwerter Freund hier bestätigen würde, wenn es ihm sein Zustand erlaubte.«
»Möchten Sie nicht vielleicht nachsehen, ob Papiere da sind, die Licht in die Sache bringen könnten«, sagt Mr. Tulkinghorn zu Krook. »Man wird Totenschau halten und Sie wahrscheinlich danach fragen.«
»Nein, kann ich nicht«, antwortete der Alte plötzlich, die Zähne zusammenbeißend.
»Snagsby, durchsuchen Sie also einmal das Zimmer für ihn«, sagt Mr. Tulkinghorn. »Er könnte sonst leicht Unannehmlichkeiten haben. Da ich schon hier bin, will ich warten, wenn Sie schnell machen, und kann dann Zeugenschaft ablegen, daß alles richtig zugegangen ist, wenn es verlangt werden sollte.«
»Wenn Sie Mr. Snagsby die Kerze halten wollen, mein Freund, wird er bald sehen, ob etwas vorhanden ist.«
»Erstens einmal ist hier ein alter Mantelsack, Sir«, sagt Snagsby.
»Ja richtig!« Mr. Tulkinghorn scheint den Mantelsack nicht gesehen zu haben, obgleich er dicht daneben steht und weiß Gott sonst wenig genug im Zimmer ist.
Der Trödler hält das Licht, und der Papierhändler leitet die Untersuchung. Der Arzt lehnt an einer Ecke des Kaminsimses; Miß Flite steht zitternd auf der Türschwelle und lugt furchtsam ins Zimmer. Der gelehrte Advokat der alten Schule mit den glanzlosen schwarzen, mit Bändern am Knie zugebundnen Hosen, der langen schwarzen Weste, dem langärmeligen schwarzen Frack und dem ungestärkten weißen Halstuch mit der kleinen Schleife, die der Hochadel so gut kennt, steht genau auf demselben Fleck in der alten Stellung.
In dem Mantelsack finden sich ein paar wertlose Kleidungsstücke, ein Bündel Versatzscheine, diese Mautzettel auf dem Wege zur Armut, ein zerknittertes Blatt Papier, das nach Opium riecht und ein paar hingekritzelte Notizen aufweist, zum Beispiel: An dem und dem Tage soviel Gran genommen, an dem und dem so und so viel Gran mehr. Die Notizen sind vor längerer Zeit niedergeschrieben, wohl mit der Absicht, sie regelmäßig fortzusetzen. Aber bald sind sie abgebrochen worden. Es finden sich ein paar schmutzige Fetzen von Zeitungen, lauter Totenschauberichte. Weiter nichts. Sie suchen im Wandschrank und in der Schublade des tintenbespritzten Tisches. Auch nicht ein Stückchen eines alten Briefs oder sonst ein Anhaltspunkt ist zu entdecken. Der junge Arzt untersucht die Kleider des Schreibers. Weiter nichts als ein Messer und einige Halfpence kommen zum Vorschein. Mr. Snagsbys Rat ist schließlich doch der praktischste, und der Kirchendiener muß geholt werden.
Die