Ada, deren weiches Herz bei dem Anblick gerührt wurde, beugte sich herab, um das kleine Gesicht zu berühren. Da bemerkte ich, was vor sich ging, und zog sie schnell zurück.
Das Kind starb.
»Ach, Esther!« rief sie und sank auf die Knie. »Sieh her! Ach, liebe Esther, das kleine Wesen! Das hübsche kleine stille Wesen! Es tut mir so leid. Und die Mutter tut mir so leid. Ich habe noch nie so etwas Trauriges gesehen. Ach das arme, arme Kind!«
Ihre Teilnahme und Milde, mit der sie sich weinend über das Kleine beugte und ihre Hand auf die der Mutter legte, hätten jedes Herz rühren müssen. Die Frau sah sie zuerst erstaunt an und brach dann in Tränen aus.
Ich nahm ihr die leichte Last von Schoße, tat, was ich konnte, um die kleine Leiche hübscher und friedlicher aussehen zu machen, legte sie auf ein Brett und deckte sie mit meinem Taschentuche zu. Wir versuchten die Mutter zu trösten und flüsterten ihr die Worte zu, die unser Heiland über die Kinder gesagt hatte. Sie antwortete nichts, sondern blieb sitzen und weinte – weinte bitterlich.
Als ich mich umdrehte, sah ich, daß der junge Bursche den Hund hinausgeführt hatte und an der Türe stand und auf uns blickte, mit trocknen Augen, aber still. Auch das Mädchen war stumm, saß in einer Ecke und blickte zu Boden. Der Mann war aufgestanden. Er rauchte noch immer mit trotziger Miene, aber er schwieg.
Ein häßliches Weib, sehr ärmlich angezogen, kam rasch herein, während ich noch die Szene betrachtete, ging auf die Mutter zu und rief: »Jenny, Jenny.« Die Mutter stand bei diesen Worten auf und fiel ihr um den Hals.
Auch diese Frau trug auf Gesicht und Armen die Spuren von Mißhandlungen. Sie hatte nichts Anmutiges an sich als die Anmut des Mitleids, aber wie sie die andere tröstete und ihr dabei die Tränen über die Wangen liefen, vermißte man die Schönheit nicht. Ich sage: tröstete; aber sie sagte nichts weiter als: »Jenny, Jenny.« Alles übrige lag in dem Ton, mit dem sie diese Worte sprach.
Es war rührend, wie diese beiden Frauen, arm, zerlumpt und zerschlagen, so einig waren, – zu sehen, was sie einander sein konnten, – wie sie füreinander fühlten, – wie ihre Herzen bei den harten Prüfungen des Lebens sanfter geworden waren. Ich glaube, die beste Seite solcher Leute bleibt uns fast immer verborgen. Was der Arme dem Armen ist, ist wenigen bekannt außer ihnen selbst und Gott.
Wir hielten es für das beste, uns zu entfernen und sie ungestört sich selbst zu überlassen. Wir stahlen uns still hinaus und wurden von niemand beachtet außer von dem Mann. Er stand an die Wand gelehnt, ganz nahe an der Tür, und als er bemerkte, daß wir nur mühsam an ihm vorbei konnten, ging er vor uns hinaus. Er schien nicht merken lassen zu wollen, daß er es unsertwegen tat, aber wir verstanden es gar wohl und dankten ihm. Er gab keine Antwort.
Ada war auf dem ganzen Nachhausewege so bekümmert, und Richard, den wir zu Hause fanden, schmerzte es so sehr, sie in Tränen zu sehen – wenn er auch einmal zu mir hinausging, um mir zu sagen, wie schön sie aussähe –, daß wir übereinkamen, abends ein paar Sachen mitzunehmen und unsern Besuch in der Hütte des Ziegelstreichers zu wiederholen. Wir sagten Mr. Jarndyce so wenig wie möglich davon, aber der Wind schlug sofort nach Osten um.
Richard begleitete uns abends nach dem Schauplatz unsres Morgenausfluges. Unterwegs mußten wir an einer lärmenden Schenke vorbei, wo eine Anzahl Männer um die Türe herumstanden. Unter ihnen und sich am lautesten herumstreitend der Vater des kleinen gestorbenen Kindes. Nicht weit davon trafen wir den jungen Burschen mit seinem Hund in ähnlich gestimmter Gesellschaft. Die Schwester lachte und plauderte mit ein paar andern Mädchen an einer Ecke der Hüttenreihe, aber sie schien sich zu schämen und wendete sich weg, als wir vorbeigingen.
Wir ließen Richard warten, als wir das Haus des Ziegelstreichers erblickten, und gingen allein weiter. Als wir die Tür erreichten, sahen wir das Weib, das die Mutter getröstet hatte, dort stehen und sich voll Angst umschauen.
»Ach so, Sie sinds, junge Damens«, sagte sie flüsternd. »Ich schau nach meinem Mann aus. Ich hab das Herz im Mund. Wenn er mich außer Haus trifft, schlägt er mich tot.«
»Ihr Ehegatte?« fragte ich.
»Ja, Miß, mein Mann. Jenny schläft. Sie ist todmüd. Seit sieben Tagen und Nächten ist das Kind kaum von ihrem Schoß gekommen, außer, wenn ich es ihr für ein paar Minuten hab abnehmen können.«
Sie machte uns Platz, wir traten leise ein und legten, was wir mitgebracht, neben das elende Bett, auf dem die Mutter schlief, hin. Man hatte keinen Versuch gemacht, die Stube zu reinigen; ihre Beschaffenheit schien jede Hoffnung auszuschließen, daß sie jemals rein werden könnte, aber die kleine starre Leiche, die soviel Feierlichkeit ringsum verbreitete, war gewaschen und reinlich in ein paar weiße Leinwandlappen gehüllt worden, und auf mein Taschentuch, das immer noch das arme Kind zudeckte, hatten dieselben rauhen narbenvollen Hände einen kleinen Strauß gelegt.
»Der Himmel möge es Ihnen vergelten!« sagten wir zu dem Weib. »Sie sind eine gute Frau.«
»Ich, junge Damens?« fragte sie mit Erstaunen. »Ruhig, Jenny!«
– Die Mutter hatte im Schlafe gestöhnt und bewegte sich. Der Klang der bekannten Stimme schien sie zu beruhigen. Sie war wieder ganz still. –
Ich ahnte nicht, als ich mein Taschentuch in die Höhe hob, um die kleine Leiche darunter zu betrachten, und Adas Haar, die sich mitleidig darüber gebeugt hatte, das Kind wie ein Glorienschein umgab – ich ahnte nicht, auf welch sturmdurchtobter Brust dieses Taschentuch noch einmal ruhen würde. Ich dachte nur daran, daß vielleicht der Engel des Kindes auf die Frau niederblicke, die es mit so mitleidiger Hand wieder darüber deckte und dann, als wir Abschied nahmen, an der Türe stehen blieb und sich abwechselnd umsah, in banger Angst hinauslauschte und wieder in ihrer beruhigenden Weise flüsterte: »Jenny, Jenny.«
Anzeichen
Ich weiß nicht, wie es zugeht, aber es kommt mir vor, als erzählte ich stets von mir selbst. Ich denke stets, ich schreibe von andern Leuten, und will so wenig wie möglich an mich denken, und plötzlich bin ich wieder mitten in der Geschichte drin und bin ärgerlich und sage: Aber, aber, du zudringliches, unbedeutendes Geschöpf!
Mein Liebling und ich lasen und arbeiteten und waren die ganze Zeit über so beschäftigt, daß die Wintertage wie froh beschwingte Vögel an uns vorüberflogen. Meistens nachmittags und jeden Abend leistete uns Richard Gesellschaft. Obgleich er einer der ruhelosesten Menschen war, die es nur geben konnte, so fühlte er sich doch sehr wohl in unsrer Gesellschaft.
Er hatte Ada sehr, sehr gern. Ich weiß es, und es ist besser, ich sage es gleich. Ich hatte noch nie junge Leute sich ineinander verlieben sehen, aber ich wußte ziemlich bald, wie es mit ihnen stand. Ich konnte natürlich nicht sagen oder merken lassen, daß ich etwas davon wußte. Im Gegenteil, ich tat so ernsthaft und stellte mich so blind, daß ich manchmal, wenn ich an der Arbeit saß, bei mir dachte, ob ich mich denn nicht gar zu hinterlistig benähme.
Aber es ging nicht anders. Ich hatte weiter nichts zu tun als still zu sein und war so still wie eine Maus. Sie waren auch so still wie Mäuse, was das Reden anbelangte, aber die unschuldige Art, mit der sie sich mehr und mehr auf mich verließen und einander immer lieber gewannen, war so entzückend, daß es mir sehr schwer wurde, zu verbergen, wie sehr es meine Teilnahme erregte.
»Unser kleines altes Hausmütterchen ist so ein vortreffliches Frauchen«, pflegte Richard zu sagen, wenn er mir frühmorgens im Garten mit seinem gewinnenden Lachen und vielleicht nicht ohne ein wenig zu erröten entgegenkam, »daß es ohne sie gar nicht geht. Ehe ich meine wilde Tageshetze beginne, mich mit Büchern und Instrumenten herumschlage und dann wie ein Straßenräuber im Galopp bergauf, bergab die ganze Gegend durchstreife, tut es mir immer so wohl, einen ruhigen Spaziergang mit unserer guten Freundin zu machen, daß ich schon wieder hier bin.«
»Du weißt, liebes Hausmütterchen«, sagte dann