Die Schläge der benachbarten Turmuhr, die die Arme daran erinnerten, daß es halb zehn sei, trug mehr zur Beendigung unseres Besuchs bei, als wir selbst hätten tun können. Sie nahm hastig ihren kleinen Dokumentenbeutel, den sie beim Hereintreten auf den Tisch gelegt hatte, und fragte uns, ob wir auch mit in den Gerichtssaal gingen. Als wir verneinten und sie um keinen Preis aufhalten wollten, öffnete sie die Tür, um uns zur Treppe zu geleiten.
»Bei einem so guten Omen ist es sogar notwendiger als gewöhnlich, daß ich dort bin, ehe der Kanzler kommt«, sagte sie, »falls er meine Sache gleich vornehmen sollte. Ich habe eine Ahnung, daß sie wirklich heute morgen zuerst dran kommt.«
Auf der Treppe blieb sie stehen und verriet uns flüsternd, das ganze Haus sei mit allerlei Gerumpel angefüllt, das ihr Wirt stückweise gekauft habe und um keinen Preis mehr hergeben würde, – weil er ein wenig – ver – – – – sei.
Das war auf dem ersten Treppenabsatz. Im zweiten Stock war sie schon ein Mal stehen geblieben und hatte bloß schweigend auf eine dunkle Tür gedeutet.
»Der einzige andre Mieter außer mir!« flüsterte sie erklärend. »Ein Advokatenschreiber. Die Kinder auf der Gasse sagen, er hätte sich dem Teufel verkauft. Ich möchte nur wissen, wo er das Geld hingetan haben sollte. Sst!« –
Sie schien sogar hier zu fürchten, daß der Mietsmann oben sie hören könnte, sagte immerwährend: »Sst!« und ging auf den Zehen vor uns her, als ob der Schall der Tritte ihm schon verraten könnte, was sie gesagt hatte.
Als wir durch den Laden das Haus verlassen wollten, fanden wir den Alten beschäftigt, eine Anzahl Pakete Makulatur in eine Art Brunnen im Fußboden zu packen. Es schien ihn sehr anzustrengen, denn der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Mit einem Stück Kreide malte er jedes Mal einen Haken auf das Wandgetäfel, wenn er einen Pack Papier verstaut hatte.
Richard, Ada, Miß Jellyby und die kleine Alte waren an ihm vorbeigegangen, und ich wollte ihnen gerade folgen, als er meinen Arm berührte, damit ich bleiben sollte, und den Buchstaben J. an die Wand malte; – auf eine sehr seltsame Weise, indem er mit dem untern Ende des Buchstabens anfing und ihn nach rückwärts schrieb. Es war ein Anfangsbuchstabe, nicht von der Form eines gedruckten, sondern von der Art, wie ihn ein Schreiber aus der Kanzlei Kenge & Carboy gemacht haben würde.
»Können Sie ihn lesen?« fragte er mich mit einem stechenden Blick.
»Natürlich. Er ist sehr deutlich.«
»Wie heißt er?«
»Jot.«
Er sah mich wieder an und dann die Tür, wischte den Buchstaben weg und schrieb statt dessen ein kleines a hin und fragte: »Was ist das?«
Ich sagte es ihm.
Er wischte dann das a weg und schrieb ein r hin und stellte dieselbe Frage. So malte er rasch weiter, bis er auf diese seltsame Weise, immer an dem verkehrten Ende der Buchstaben anfangend, das Wort Jarndyce zusammenbrachte, ohne ein einziges Mal zwei Buchstaben zu gleicher Zeit an der Wand stehen zu lassen.
»Wie liest man das?« fragte er mich.
Als ich es ihm sagte, kicherte er.
In derselben seltsamen Weise, aber ebenso schnell, schrieb er dann einzeln die Buchstaben des Wortes: »Bleakhaus« hin und wischte sie einzeln wieder weg.
Auch das las ich mit einigem Erstaunen, und wieder lachte er.
»Hü« sagte er dann und legte die Kreide weg. »Ich habe so meine Art, aus dem Gedächtnis Buchstaben nachzumalen, Miß, obgleich ich weder lesen noch schreiben kann.«
Er sah dabei so häßlich aus und seine Katze starrte mich so boshaft an, als ob ich eine Blutsverwandte der Vögel oben wäre, daß ich mich ordentlich erleichtert fühlte, als Richard an der Tür erschien und sagte:
»Miß Summerson, ich hoffe, Sie verkaufen doch nicht am Ende Ihr Haar hier. Lassen Sie sich nicht verleiten! Drei Säcke im Keller sind gerade genug für Mr. Krook.«
Ich säumte nicht länger und wünschte Mr. Krook guten Morgen, schloß mich dann meinen Freunden an der Straße an, und wir nahmen von der kleinen Alten Abschied. Sie gab uns mit großer Feierlichkeit ihren Segen und erneuerte ihre Versicherung von gestern, sie wolle Ada und mich zu Erben ihrer Güter einsetzen.
Ehe wir aus der Gasse bogen, drehten wir uns noch einmal um und sahen Mr. Krook in seiner Ladentür stehen und uns durch die Brille nachblicken, während die Katze auf seiner Schulter saß und ihr Schwanz sich an seiner Pelzmütze wie eine große Feder in die Höhe bog.
»Wirklich ein Abenteuer für einen Londoner Morgen«, sagte Richard mit einem Seufzer. »Ach Kusine, Kusine, es ist ein trauriges Wort, dieses Kanzleigericht.«
»Das ist es für mich seit der Zeit, da ich denken kann«, entgegnete Ada. »Es macht mir Kummer, daß ich die Feindin einer großen Anzahl von Verwandten und andren Menschen sein muß und sie meine Feinde sein müssen und wir uns alle miteinander zugrunde richten, ohne zu wissen, wieso oder warum, und unser ganzes Leben in beständiger Spannung und Zwietracht verbringen. Da doch auf einer Seite das Recht sein muß, finde ich es wirklich seltsam, daß ein ehrlicher Richter mit rechtem Ernst in diesen vielen Jahren nicht hat herausfinden können, wo es liegt.«
»Ja, Kusine«, sagte Richard, »wirklich seltsam! Dieses zeitverschwenderische, ziellose Schachspielen ist sehr sonderbar. Wie der ganze Gerichtshof gestern so unbekümmert im alten Geleise forttrabte und dabei an den Jammer und das Elend der Steine auf dem Brett denken zu müssen, hat mir Kopfweh und Herzeleid gemacht. Der Kopf glühte mir vor Nachgrübeln, wie so etwas nur möglich sei unter Menschen, die doch weder Narren noch Gauner sind. Das Herz tat mir weh, als ich dachte, ob sie nicht doch vielleicht eins von beiden sind. Aber jedenfalls, Ada, – darf ich Sie Ada nennen?«
»Natürlich, Vetter Richard.«
»– jedenfalls, Ada, soll das Kanzleigericht seine bösen Einflüsse nicht auf uns ausüben. Unserm guten Verwandten sei Dank, daß er uns so glücklich zusammengebracht hat; das Kanzleigericht kann uns jetzt nicht trennen.«
»Niemals, hoffe ich, Vetter Richard«, sagte Ada freundlich.
Miß Jellyby drückte meinen Arm und warf mir einen bedeutsamen Blick zu. Ich antwortete mit einem Lächeln, und wir legten den Rest des Weges recht vergnügt zurück.
Eine halbe Stunde nach unsrer Ankunft erschien Mrs. Jellyby, und innerhalb einer Stunde verirrten sich die verschiedenen, zum Frühstück notwendigen Dinge einzeln in das Speisezimmer.
Ich bezweifle durchaus nicht, daß Mrs. Jellyby wie jeder andere Mensch zu Bett gegangen und wieder aufgestanden war, aber man merkte durchaus nicht, daß sie die Kleider gewechselt hatte. Sie war während des Frühstücks außerordentlich beschäftigt, denn die Morgenpost brachte ein schweres Paket Briefe über Borriobula-Gha, das, wie sie sagte, den ganzen Tag in Anspruch nehmen werde. Die Kinder purzelten herum und kerbten neue Merkzeichen ihrer Unfälle auf ihre Schienbeine, die sowieso schon vollständige kleine Unglückskalender darstellten, und Peepy war anderthalb Stunden lang nicht zu finden, bis ihn ein Polizeidiener von Newgate-Market nach Hause brachte. Der Gleichmut, mit dem Mrs. Jellyby sowohl seine Abwesenheit wie seine Wiederkehr in den Familienkreis hinnahm, setzte uns alle in Erstaunen.
Sie diktierte dann mit nimmer ermüdender Ausdauer ihrer Tochter Caddy, und diese versank wieder ziemlich schnell in den tintenbeklecksten Zustand, in dem wir sie gestern gefunden hatten.
Um ein Uhr fuhr ein offener Wagen für uns vor und ein Karren für unser Gepäck. Mrs. Jellyby trug uns viele Grüße an ihren lieben Freund Mr. Jarndyce auf; Caddy verließ ihr Pult, um uns abreisen zu sehen, küßte mich im Hausflur und stand, an der Feder kauend, schluchzend auf der untersten Stufe der Treppe; Peepy