Mrs. Jellyby, deren Gesicht nichts von der Unruhe zeigte, die wir nicht verbergen konnten, als wir den Kopf des armen Kindes bei jeder Stufe hohl aufschlagen hörten – Richard sagte uns später, er habe sieben gezählt, den Treppenabsatz nicht mit eingerechnet –, empfing uns mit vollkommenem Gleichmut. Sie war eine hübsche, sehr kleine und wohlbeleibte Frau zwischen vierzig und fünfzig Jahren mit schönen Augen, die immer in weite Ferne zu blicken schienen, als ob sie – mit Richards Worten zu reden – nichts Näheres als Afrika sehen könnten.
»Es freut mich außerordentlich«, sagte Mrs. Jellyby mit einer angenehmen Stimme, »das Vergnügen zu haben, Sie bei mir zu sehen. Ich schätze Mr. Jarndyce ungemein, und niemand, an dem er Anteil nimmt, kann mir gleichgültig sein.«
Wir drückten unsern Dank aus und setzten uns hinter die Tür auf einen lahmen Invaliden von einem Sofa. Mrs. Jellyby hatte sehr hübsches Haar, war aber von ihren afrikanischen Pflichten zu sehr in Anspruch genommen, um es haben kämmen zu können. Der Schal, der sie lose umhüllte, fiel auf den Stuhl, als sie uns entgegenkam; und als sie sich umdrehte, um ihren Platz wieder einzunehmen, konnte es uns nicht entgehen, daß ihr Kleid hinten offen stand und in der Mitte einen Zwischenraum mit einem Gitterwerk von Korsettschnüren sehen ließ – gleich einer Sommerlaube. Das Zimmer, von einem großen mit einem Wust von Schriften bedeckten Schreibtisch fast ausgefüllt, sah im höchsten Grade schmutzig aus, und der Fußboden war mit Papier belegt. Während alles dies unsern Gesichtssinn angenehm in Anspruch nahm, erquickte unser Ohr wiederum das Geräusch eines draußen die Treppe hinunterkollernden Kindes, dessen Geschrei dann jemand unten in der Küche zu ersticken schien.
Was mir am meisten auffiel, war ein abgearbeitet und ungesund aussehendes, wenn auch keineswegs häßliches Mädchen, das am Schreibtisch saß, am Ende seiner Feder kaute und uns anstarrte.
So mit Tinte imprägniert ist, glaube ich, noch nie ein Mensch gewesen. Von ihrem wirren Haar angefangen bis zu ihren zierlichen Füßen herunter, die ausgefranste, zerschlissene und hinten niedergetretene Atlasschuhe entstellten, schien sie, von der kleinsten Nadel an, kein Kleidungsstück an sich zu haben, das in gehöriger Ordnung gewesen wäre oder am richtigen Fleck gesessen hätte.
»Sie sehen mich wie gewöhnlich sehr beschäftigt«, sagte Mrs. Jellyby und schneuzte die beiden großen, in zinnernen Leuchtern steckenden Kerzen, die einen starken Geruch von warmem Unschlitt im Zimmer verbreiteten. Das Feuer war ausgegangen und im Kamin nichts als Asche, ein Bündel Holz und ein Schüreisen.
»Sie finden mich wie gewöhnlich sehr beschäftigt, aber Sie werden das entschuldigen. Das afrikanische Projekt nimmt gegenwärtig meine ganze Zeit in Anspruch. Es hat mich in Briefverkehr mit vielen für das Allgemeinwohl begeisterten öffentlichen Körperschaften und Privatpersonen im ganzen Lande gebracht. Es freut mich, sagen zu können, daß es einen bedeutenden Aufschwung nimmt. Wir hoffen, nächstes Jahr um diese Zeit hundertfünfzig bis zweihundert rüstige Familien mit Kaffeeanbau und der Erziehung der Eingeborenen von Borriobula-Gha am linken Nigerufer beschäftigen zu können.«
Da Ada nichts sagte und mich nur hilfesuchend ansah, bemerkte ich, daß das außerordentliche Befriedigung gewähren müsse.
»Es gewährt große Befriedigung«, bestätigte Mrs. Jellyby. »Freilich erfordert es die Anspannung aller meiner Kräfte, aber das hat nichts zu sagen; wenn es nur gelingt. Und ich glaube von Tag zu Tag mehr an den Erfolg. Wissen Sie, Miß Summerson, ich wundere mich eigentlich, daß Sie niemals Ihre Blicke auf Afrika gerichtet haben?«
Diese Wendung des Gesprächs kam mir so unerwartet, daß ich nicht recht wußte, was darauf antworten. Ich machte die Einwendung, das Klima sei –
»Das schönste Klima der Welt«, unterbrach Mrs. Jellyby.
»Wirklich, Maam?«
»Gewiß! Bei der nötigen Vorsicht. Sie können nach Holborn gehen und überfahren werden, wenn Sie die nötigen Vorsichtsmaßregeln außer acht lassen. Dagegen können Sie nach Holborn gehen und brauchen durchaus nicht, wenn Sie acht geben, überfahren zu werden. Genau so verhält es sich mit Afrika.«
Ich sagte: »Natürlich« – ich dachte dabei an Holborn.
»Wenn Sie vielleicht über diesen Punkt« – Mrs. Jellyby schob uns einen Stoß Papiere hin – »und über das Thema im allgemeinen nachlesen wollen, während ich einen Brief zu Ende diktiere – hier meiner ältesten Tochter, die mir als Amanuensis dient –« Das Mädchen am Tisch hörte auf, an der Feder zu kauen, und erwiderte unsere Begrüßung mit einer Verbeugung, die halb verschämt, halb trotzig war. »– so werde ich vorderhand fertig sein«, fuhr Mrs. Jellyby mit süßem Lächeln fort, »obgleich meine Arbeit nie zu Ende geht. Wo sind wir stehen geblieben, Caddy?«
»– entbietet Mr. Swallow ihre Empfehlungen und bittet –«
»– und bittet um Erlaubnis«, diktierte Mrs. Jellyby, »ihn in Beantwortung seiner Anfrage, das afrikanische Projekt betreffend, informieren zu dürfen. – Nein, Peepy! unter keinen Umständen!«
Peepy war das unglückliche Kind, das die Treppe hinuntergefallen war und jetzt das Diktat durch sein Erscheinen unterbrach, ein Pflaster auf der Stirn kleben hatte und auf seine verwundeten Knie zeigte, an denen Ada und ich nicht wußten, was wir am meisten bedauern sollten – die Beulen oder den Schmutz. Mrs. Jellyby sagte mit der ihr in allen Lagen eigenen ruhigen Fassung: »Geh hinaus, du Nichtsnutz!« und wendete ihre schönen Augen wieder Afrika zu.
Da sie mit ihrem Diktat sogleich wieder fortfuhr und ich sie dadurch nicht störte, wagte ich in aller Stille, den armen Jungen, als er hinausgehen wollte, aufzuhalten und ihn auf den Schoß zu nehmen. Er machte darüber und daß Ada ihn küßte, ein ganz verwundertes Gesicht, schlief aber bald in meinen Armen ein, in immer längeren Zwischenräumen schluchzend, bis er endlich ganz still wurde.
Ich war zu sehr mit Peepy beschäftigt, als daß ich auf die Einzelheiten des Briefes hätte acht geben können. Ich empfing nur einen allgemeinen Eindruck von der hohen Wichtigkeit Afrikas im Gegensatz zur Nichtigkeit aller andern Länder und Dinge, daß ich mich wirklich schämte, bisher so wenig darüber nachgedacht zu haben.
»Sechs Uhr«, sagte Mrs. Jellyby endlich. »Unsere Speisestunde ist nominell, denn wir speisen zu allen Stunden. Eigentlich um fünf Uhr! Caddy, zeige Miß Clare und Miß Summerson ihre Zimmer. Sie wollen sich vielleicht ein wenig umkleiden? Sie werden mich gewiß entschuldigen, aber ich bin sehr beschäftigt. O das garstige Kind! Bitte, setzen Sie es doch hin, Miß Summerson.«
Ich bat um Erlaubnis, den Kleinen bei mir behalten zu dürfen, da er mir gar nicht lästig falle, trug ihn hinauf und legte ihn auf mein Bett.
Ada und ich hatten zwei Zimmer im ersten Stock, die durch eine Tür verbunden waren. Sie sahen ungemein kahl und unordentlich aus, und als Gardinenhalter an meinem Fenster diente eine Gabel.
»Sie hätten vielleicht gern warmes Wasser?« fragte Miß Jellyby und sah sich vergeblich nach einem Henkelkrug um.
»Wenn es keine Umstände macht.«
»Ach, daran läge nichts«, entgegnete Miß Jellyby. »Die Frage ist nur, ob welches da ist.«
Der Abend war so kalt, und die Zimmer rochen so dumpfig, daß es uns wirklich recht unbehaglich wurde und Ada fast geweint hätte. Wir lachten jedoch bald wieder und waren eifrig mit Auspacken beschäftigt, als Miß Jellyby mit der Nachricht zurückkehrte, sie bedauere sehr, aber warmes Wasser sei nicht zu haben; sie könnte den Teekessel nicht finden und der Waschkessel in der Küche sei zerbrochen.
Wir baten sie, sich doch nicht weiter zu inkommodieren, und beeilten uns soviel wie möglich, um wieder hinunter in die geheizte Stube zu kommen.
Aber alle kleinen Kinder standen draußen an der Treppe vor der Tür, um das seltene Schauspiel des auf meinem Bette schlafenden Peepy zu genießen, und in einem fort störte uns das beständige Erscheinen von Nasen und Fingern in höchst gefährlichen Lagen zwischen Tür und Angel. Es war unmöglich, auch nur eines der beiden Zimmer zu verschließen, denn mein Türschloß, an dem die Klinke fehlte, sah aus, als wenn es erst mit einem großen