Zum Scheitern wäre jeder Versuch verurteilt gewesen, sie einfach durch Menschenkraft von ihrem jetzigen Ort in das Laboratorium zu schaffen. Andere, stärkere Mittel mußten dafür in Anwendung kommen. Der Gewalt der Strahlkugel mußte eine noch größere Gewalt entgegengesetzt werden.
Schnell waren sich Grabbe und Thiessen darüber einig, was weiter zu geschehen hatte, und der Chefingenieur gab seine Anordnungen durch das Telefon. Nicht lange brauchte er zu warten. Motorendröhnen erklang, und über den Werkhof rollte einer jener riesenhaften Spezialwagen mit zwanzig Achsen heran, auf denen sonst die hundert und mehr Tonnen wiegenden stählernen Hochdruckkessel transportiert wurden.
»Das Wägelchen wird uns der Bursche nicht mit in die Luft nehmen«, sagte Grabbe, als das Mammutfahrzeug neben der Kuppel hielt. Alle an der Arbeit Beteiligten legten Schutzanzüge an.
Hilfstrossen wurden in das Netz eingeschäkelt und mit dem Chassis des Wagens fest verbunden. Schwere Kettenzüge traten danach in Tätigkeit und holten das Netz mit seinem Inhalt Zoll für Zoll von der Kuppel herunter, während die ersten nun entlasteten Stahldrahtseile gelöst werden konnten. Eine gute Stunde währte das Ganze, dann setzte sich der schwere Wagen in Bewegung, fuhr über den Hof und weiter in die Halle ein, in der sich das Laboratorium befand.
»So weit wären wir glücklich«, meinte Dr. Thiessen mit einem Seufzer der Erleichterung.
»Ich fürchte, mein lieber Thiessen, das dicke Ende kommt noch nach«, warf Grabbe ein. »Sobald wir das Netz lösen, saust uns der Brocken auch hier ab. Das Dach«, er deutete nach oben, »vermag keinen Widerstand zu leisten.«
»Man müßte die Kugel anbohren, während sie noch im Netz ist«, schlug Dr. Stiegel vor, »eine starke Bohrung, einen soliden zweizölligen Stahlbolzen durchgesteckt. Damit sollte man sie wohl festhalten können.«
»Gut gebrüllt, Löwe!« Chefingenieur Grabbe mußte trotz seiner Sorgen lachen. »Ihre Idee ist gar nicht so übel, aber wie wollen Sie die Bohrung herstellen, wenn Sie das Stück nicht in eine Bohrmaschine einspannen können?«
»Ich habe einen andern Vorschlag«, meldete sich Hegemüller zum Wort, »man braucht die Kugel nur eine halbe Drehung machen zu lassen, dann geht ihre Stoßkraft nicht mehr nach oben, sondern nach unten, und sie muß fest und unverrückbar auf dem Wagenboden liegenbleiben. Man könnte das Netz lüften und die Bohrung an Ort und Stelle vornehmen.«
Dr. Thiessen hob beschwörend die Hände. »Machen Sie lieber keine Vorschläge, Kollege Hegemüller. Ich bin felsenfest überzeugt, daß es auch diesmal wieder eine Katastrophe gibt, wenn wir nach Ihren Ratschlägen handeln.«
Dr. Hegemüller wollte den Beleidigten spielen, als ihm unerwartet in Grabbe ein Helfer erstand. »Ich meine, Herr Doktor«, wandte er sich an Thiessen, »der Vorschlag ist nicht so übel. Wollen wir das nicht doch einmal versuchen?«
Thiessen zuckte die Achseln. »Auf Ihre Verantwortung, Herr Grabbe. Ich sehe noch keinen Weg, wie Sie's machen wollen.«
»Sehr einfach, meine Herren«, begann Hegemüller mit neuem Unternehmungsgeist, »wir stützen die Kugel auf der einen Seite mit einer kräftigen Stahlrolle ab und ziehen das Netz mit den Kettenzügen ein Stück über sie hin, dabei muß sie sich ja drehen.«
Nach einer kurzen Debatte wurde der Vorschlag Hegemüllers angenommen. Was man dazu benötigte, war schnell beschafft. Nach dem Kommando Grabbes begannen sie gleichzeitig an den vier Kettenzügen zu arbeiten, ließen auf der einen Seite die Halteseile aus, zogen sie auf der anderen ebensoviel an, und langsam bewegte sich das Netz quer zur Wagenrichtung. Schon bald war es zu merken, wie der Zug der Kugel nach oben nachließ, während sie sich immer stärker gegen die Stahlrolle preßte. Dann plötzlich ein jäher Fall. Ein schwerer Schlag, der den Bau des mächtigen Kraftwagens in allen Fugen erzittern ließ. Die Kugel lag fest auf dem Chassis; locker war das Netz über ihr zusammengefallen.
Der Chefingenieur trocknete sich die Stirn. »Wieder ein Stück weiter! Das ist geglückt. Jetzt kommt Ihr Rezept an die Reihe, Herr Stiegel, jetzt wird gebohrt.«
»Also der Tragödie zweiter Teil«, versuchte Dr. Thiessen zu scherzen, »oder sagen wir lieber der Komödie zweiter Teil?«
»Das wird davon abhängen, wie die Geschichte ausgeht«, meinte Grabbe, »wir wollen alles, was in unseren Kräften steht, tun, damit es keine Tragödie wird.«
Das besorgte der Chefingenieur denn auch in einer Art und Weise, daß seine Vorsichtsmaßregeln sogar dem bedächtigen Dr. Thiessen fast übertrieben erschienen, denn mehr als vierundzwanzig Stunden brauchte er für die Vorbereitungen. Dann aber lag die Kugel sicher unterklotzt fest und unbeweglich da, während das Netz für alle Fälle immer noch in geringer Höhe über ihr ausgespannt blieb. Nun konnte eine Bohrvorrichtung angebracht werden, und langsam fraß sich ein handgelenkstarker Spiralbohrer in das Metall der Stahlkugel hinein.
Ohne Zwischenfälle verliefen die nächsten Arbeiten. Eine genau auf das Maß der Bohrung abgedrehte Stahlstange wurde durch die Kugel gesteckt. Kräftige Lager, auf einer viele Tonnen schweren Fundamentplatte montiert, nahmen die beiden Enden der Stange auf, und jetzt endlich hatte man die Stahlkugel sicher gefangen, konnte das Netz beiseite ziehen, konnte den ganzen Aufbau von dem Wagen herunternehmen und in Ruhe untersuchen, was sich da nun eigentlich in der Blitzröhre gebildet hatte.
Das Ergebnis bestätigte die Vermutungen Dr. Thiessens. Ziemlich genau bis zur Hälfte war das Metall stark strahlend geworden, zur anderen Hälfte bestand es aus einer inaktiven bleiähnlichen Substanz.
»Wie ein Apfel, der eine rote und eine grüne Backe hat«, meinte Grabbe vergleichsweise.
»Wie der Apfel, der Schneewittchen den Scheintod brachte«, führte Dr. Thiessen das Bild weiter, »in unserem Fall ist die strahlende die giftige Hälfte. Wir riskieren mehr als den Scheintod, wenn wir ihr unvorsichtig zu nahe kommen. Solange die Kugel fest lag, hatte es damit keine Gefahr; jetzt, wo wir sie drehbar gelagert haben, ist Vorsicht geboten.«
»Ja . . . Vorsicht!« Chefingenieur Grabbe hatte die Worte zerstreut und wie abwesend hingesagt. Über einen Zeichenblock gebeugt, war er dabei, zu skizzieren, Maschinenteile zu entwerfen und eine Konstruktion zu Papier zu bringen. Interessiert verfolgte Thiessen die Arbeit des Chefingenieurs. Er wollte etwas sagen, als Grabbe das Blatt von dem Block abriß und zusammenfaltete.
»Später, Doktor Thiessen«, winkte er ab, »mir ist da eine Idee gekommen. Jetzt ist die Sache noch nicht spruchreif. In den nächsten Tagen wollen wir weiter darüber beraten.«
Als Grabbe bereits die Türklinke in der Hand hatte, wandte er sich noch einmal um. »Was ich noch sagen wollte, Herr Thiessen, lassen Sie die Strahlkugel in die Stahlkammer Ihres Laboratoriums bringen. Ich möchte sie gegen neugierige Augen geschützt wissen.«
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