Spaziergang zum
Dschungelkönig
Reisestories aus vier Kontinenten
Nature Press
Aus dem Inhalt:
1. Kleines Dschungelbuch in vier Tagen. Zu Fuß auf Tigersuche in Indiens Kardamombergen.
2. Blut, Schweiß und Hyänen. Unter Löwentötern. Leben in einem Massai-Dorf.
3. Kerzen für den Teufel. Guatemala. Zur Karwoche im Land der Mayas.
4. Die Wiedertäufer von Upper Barton Creek. Zu Ostern bei ultraorthodoxen Mennoniten im Urwald von Belize.
5. Malawi Secondary Road. Im Geisterwald von Nkhotakota.
6. Letzte Ausfahrt Schwarzes Meer. Unterwegs im Donaudelta.
7. Sonne, Durst und Sterne. Neunzig Kilometer zu Fuß durch Namibias Fish River Canyon.
8. Hundert Kilometer Einsamkeit. Mit dem Kanu auf dem Oranje im Süden Namibias.
9. Auf der Suche nach Kunta Kinte. In Juffure im westafrikanischen Gambia ist die Zeit der Sklaverei noch präsent.
10. Expedition Tonkin. Auf der Suche nach Vietnams letzten Stumpfnasenaffen.
11. In Adebars Reich. Unterwegs in Kroatiens Save-Auen.
12. Rußland in einem Zug. Mit der Transsib von Moskau bis zum Baikalsee.
13. Grand Canyon auf badische Art. Durch die Wutachschlucht im Südschwarzwald.
14. Intifada Road. Mit Rad und Bus durchs Heilige Land.
15. Wildschwein, Bär, Viper & Co.: Wo Natururlauber in Europa mit riskanten Kollisionen rechnen müssen.
Kleines Dschungelbuch in vier Tagen
Zu Fuß auf Tigersuche in Indiens Kardamombergen
Im alten Indien pflegten die Maharadschas und kolonialen Großwildjäger auf dem Rücken eines Elefanten auf Tigerjagd zu gehen. Heute ist der Elefant ein Land Rover, Jeep oder indischer Tata, der in den Reservaten von Kanha, Ranthambore oder Corbett zur Tigerpirsch vorrückt, die Schüsse sind Schnappschüsse und machen nur klick und klack.
In einem abgelegenen Winkel Südindiens, im Periyar Tiger Reserve in den Kardamombergen der Western Ghats im Osten des Bundesstaates Kerala, gibt es noch zwei weitere Varianten. Erstens: Man fährt mit einem Ausflugsdampfer für eine Handvoll Rupien gemütlich mit einer Limo in der Hand über den Periyarsee und hält von Bord nach wildem Getier Ausschau. Dieses Unternehmen betört vor allem Indiens Honeymooner, und so sind die Schiffe voll mit jungen, fröhlichen indischen Paaren. Wer die zweistündige Törn ein paarmal macht, sieht garantiert wilde Elefanten, mit etwas Glück auch Büffel und Asiatische Wildhunde und bei der zweitausendsten Rundfahrt eventuell den Schatten eines Tigerschwanzes. Variante eins verheißt Bequemlichkeit und Sicherheit. Nur trügt der Schein wie so oft. Im September 2009 bekam ein nagelneues Ausflugsboot Schlagseite und versank, als sich am Ufer eine Elefantenherde zeigte und viele Passagiere zum Public Viewing just in dem Moment auf eine Bootsseite stürzten, als der Kahn eine tigerzahnscharfe Kurve fuhr. 45 Tote wurden gezählt, bis auf zwei alles Inder, die meisten Frauen und Kinder. Etwa zwanzig Passagiere überlebten den Ausflug.
Von einer weiteren Variante, dem Tiger auf die Spur zu kommen, hatten wir zufällig nach einer trockenen Fußes überstandenen Bootsfahrt erfahren: der „Periyar Tiger Trail“, der nahe der Ortschaft Thekkady im Periyar Wildlife Sanctuary startet. „Trail“ heißt hier Fußmarsch durch Dschungel und Grasland, organisiert von Keralas Forstverwaltung. Der Ausflug dauert zwei, drei oder, wenn keine anderen Interessenten da sind, auch ausnahmsweise vier Tage. Außer mir und Kerstin, die sonst eher auf Shiva-Tempel und Buddha-Statuen abonniert ist, gibt es keine Interessenten.
Schon am nächsten Vormittag ist Aufbruch. Vier Stunden sollen es zum ersten Rastlager sein. Wir passieren den Periyarsee, den Stausee, aus dem ertrunkene Bäume surrealistisch ihre Stämme hockrecken. Reiher staksen am Ufer. Im Wald huschen schwarze Nilgiri-Languren durchs Geäst, ein Sambar-Hirsch, Leibgericht des Bengaltigers, kreuzt den Weg. Fünf Mann begleiten uns, vier davon sind Träger, Köche und Fährtenleser. Und Bodyguards. Denn im Wald warten neben Elefanten und Dschungelrindern auf jeden Besucher auch Leoparden, Lippenbären, Asiatische Wildhunde, Königskobras und Pythons. Und Shir Khan, der König des Dschungels. Rudyard Kiplings ganze Dschungelbuchbesetzung leistet ihm in Periyar Gesellschaft: 62 Säugetierarten, viele endemisch oder gefährdet, 315 Vogelarten, 45 Reptilien-, 27 Amphibien-, 38 Fisch- und allein 112 Schmetterlingarten.
Tanghan, der Fünfte im Bunde, ist unser Anführer. Der 31jährige hat Politik studiert und vor zwei Wochen geheiratet. Im Dschungel zählt die Politik nicht. Hier gilt nur fressen und gefressen werden. Tanghans khakifarbene, knitterfreie Forstmannsuniform mit Koppel und Schulterabzeichen strahlt militärischen Zack aus, eine Aura von Ernst und Disziplin, die es im Dschungel zu wahren gilt, damit den westlichen Rucksacktouristen kein Malheur widerfährt. Er ist unser Leibwächter. Er wird fast jeden Moment sein Jagdgewehr am Mann haben, ein chinesisches Modell, Jahrgang 1975, zwölf Schuß, das reicht zur Not, um eine ganze Büffel- oder Elefanten-Stampede zu bewältigen.
Tanghan ist ein sehr bedächtiger Typ, aufmerksam, umsichtig, ein stets freundlicher, aber ernster Charakter mit Understatement. Er erzählt mir von den indischen Tragödien, von der Ermordung Gandhis, er meint die Indira Gandhis 1984, vom Giftgasunglück in Bhopal und anderen Katastrophen. Wie sich denn die deutsche Einheit so mache, will er wissen. Ich gebe eine abfällige Einschätzung, damit Indien im bilateralen Katastrophenvergleich nicht zu schlecht abschneidet, und frage: Wie steht es um die Wiedervereinigung von Indien und Pakistan? Der Forstmann winkt ab. „Zu viele Fanatiker.“
Im Urwald kommt uns ein Troß Tiger-Touristen entgegen. Sie hatten das Rendezvous für eine Nacht mit dem König des Dschungels gebucht. Jetzt sind sie gefrustet. Shir Khan ist nicht erschienen. Nicht mal Elefanten haben sich blicken lassen. Nichts als pugmarks, Tatzenabdrücke von einem Tigerweibchen und ihren Jungen.
Eine Wildschweinrotte rennt vor uns durch eine Furt, der Keiler voran. Schon nach einer Stunde machen die vier Träger Feuer. It's tea time. Die Briten haben hier mit ihrem way of life gründlich gewirkt. Zur Einstimmung werden „Tiger“-Kekse gereicht. Was die Feldküche noch zu bieten hat, steckt in den Kochtöpfen, die die Träger auf dem Kopf balancieren: Bohnen, Linsen, Kürbis, Kohl, Möhren, Reis, Obst.
Die Jagd in Periyar ist strikt verboten, Wilderei wird hart geahndet. Tanghan und seine Männer sind auch deshalb mit uns unterwegs, um nach Spuren von Wilderern Ausschau zu halten. Allein in den ersten fünf Jahren des Projekts „Tiger Trail“ wurden mehr als 85 Wilddiebe gefaßt, darunter vier Elfenbeinjäger.
Auch unsere vier Träger waren früher Schmuggler und Wilderer, wie Generationen vor ihnen. Früher haben sie Tiere gejagt, Bäume gefällt, Teak, Sandelholz, Rosenholz, und Zimtbäume entrindet. Sie sind die Ureinwohner, Peryiar ist ihr Wohnzimmer. Ihre Profession ist die Natur, sie kennen jede Pflanze, jedes Tier, jeden Trampelpfad, jeden Ameisenhaufen. Sie haben sonst nichts gelernt. Die Dschungelausflüge machen ihnen sichtlich Spaß. Das Englisch der meisten Träger beschränkt sich auf wiederkehrende Versatzstücke wie „good morning“, „tea, yes?“ und „tiger dangerous“. No problem, wir verstehen uns auch so, zu viel Gerede verscheucht nur das Wild.
Die Forstverwaltung war klug: Sie hat die Wilderer umgedreht. 23 von dreißig nahmen das Angebot an. Was sie zuvor aus der Natur nahmen, das sollten sie fortan schützen. Nicht auf der payroll des Hehlers, der Elfenbein, bush meat und Edelhölzer verschiebt, stehen sie länger, sondern auf der der Forstverwaltung. Und die verdient an unsereins.
Im Vergleich zum früheren Schmugglerleben ist der Verdienst der Aussteiger gering. Umgerechnet knapp hundert Euro verdienen sie im Monat. Dafür sind ihnen nicht mehr Ranger und Polizei auf den Fersen. Allein unser Fährtenleser hatte es vor seiner Bekehrung auf achtzehn Strafverfahren wegen Wilderei gebracht. Frei von Gefahren wurde ihr Dschungelleben nicht. Einer der 23 wurde 2002, als er im Periyar-Park Elfenbeinjäger verfolgte, von einem Elefanten