Leichtlich hätten diese Abenteuer meine ersten und letzten sein können. Dann wäre dies Büchlein ungeschrieben und manche andere Mühe und Torheit ungeschehen geblieben. Ich hätte vermutlich irgend eine Base geheiratet oder läge vielleicht auch irgendwo beiseit ins Gletscherwasser gefroren. Es wäre auch nicht übel. Aber alles kam anders und es steht mir nicht zu das Geschehene mit Ungeschehenem zu vergleichen.
Mein Vater tat jeweils ein wenig kleinen Dienst im Welsdörfer Kloster. Nun war er einstmals krank und befahl mir ihn dort abzusagen. Das tat ich indessen nicht, sondern entlehnte beim Nachbar Papier und Feder und schrieb einen manierlichen Brief an die Klosterbrüder, gab den der Botenfrau mit und ging auf eigene Faust in den Berg.
Nächste Woche komme ich eines Tags nach hause, da sitzt ein Pater und wartet auf denjenigen, der den schönen Brief geschrieben hat. Mir ward etwas bänglich, aber er lobte mich und suchte meinen Alten zu bereden, daß er mich bei ihm lernen lasse. Der Oheim Konrad war dazumal gerade wieder in Gunst und wurde befragt. Natürlich war er sofort dafür entflammt, daß ich lernen und später studieren und ein Gelehrter und Herr werden müsse. Der Vater ließ sich überzeugen, und so gehörte nun auch meine Zukunft zu den gefährlichen Oheimsprojekten, gleich dem feuersicheren Backofen, dem Segelschiff und den vielen ähnlichen Phantastereien.
Es ging sogleich an ein gewaltiges Lernen, zumal in Lateinisch, biblischer Geschichte, Botanik und Geographie. Mir machte das alles vielen Spaß und ich dachte nicht daran, daß das welsche Zeug mich vielleicht Heimat und schöne Jahre kosten könne. Das Lateinische allein tats auch nicht. Mein Vater hätte mich zum Bauer gemacht, wenn ich auch die ganzen viri illustres vorwärts und rückwärts auswendig gekonnt hätte. Aber der kluge Mann hatte mir auf den Grund meines Wesens gesehen, wo als Schwerpunkt und Kardinaluntugend meine unbesiegbare Trägheit hauste. Ich entrann, wo es nur gehen wollte, der Arbeit und lief statt dessen den Bergen oder dem See nach oder lag seitwärts versteckt an der Halde, las, träumte und faulenzte. In dieser Erkenntnis gab er mich schließlich weg.
Dies ist eine Gelegenheit, ein kurzes Wort über meine Eltern zu sagen. Die Mutter war ehedem schön gewesen, davon war aber nur der feste, grade Wuchs und die anmutigen, dunklen Augen übrig geblieben. Sie war groß, überaus kräftig, fleißig und still. Obwohl sie reichlich so klug wie der Vater und an Körperkraft ihm überlegen war, herrschte sie doch nicht im Hause, sondern ließ das Regiment ihrem Manne. Er war mittelgroß, hatte dünne und fast zarte Glieder und einen hartnäckigen, schlauen Kopf mit einem Gesicht, das von heller Farbe und ganz voll von kleinen, ungemein beweglichen Falten war. Dazu kam eine kurze, senkrechte Stirnfalte. Sie verdunkelte sich, so oft er die Brauen bewegte, und gab ihm ein grämlich leidendes Aussehen; es schien dann, als versuche er sich auf etwas sehr Wichtiges zu besinnen und sei selber ohne Hoffnung je darauf zu kommen. Man hätte eine gewisse Melancholie an ihm wahrnehmen können, aber niemand achtete darauf, denn die Bewohner unsrer Gegend sind fast alle von einer stetigen, leichten Trübe des Gemüts befangen, dessen Ursache die langen Winter, die Gefahren, das mühselige Sichdurchschlagen und die Abgeschlossenheit vom Weltleben sind.
Von beiden Eltern habe ich wichtige Stücke meines Wesens übernommen. Von der Mutter eine bescheidene Lebensklugheit, ein Stück Gottvertrauen und ein stilles, wenig redendes Wesen. Vom Vater hingegen eine Ängstlichkeit vor festen Entschließungen, die Unfähigkeit mit Geld zu wirtschaften und die Kunst viel und mit Überlegung zu trinken. Letzteres zeigte sich aber an mir in jenem zarten Alter noch nicht. Äußerlich hab ich vom Vater die Augen und den Mund, von der Mutter den schweren, dauerhaften Gang und Körperbau und die zähe Muskelkraft. Vom Vater und von unserer Rasse überhaupt bekam ich ins Leben zwar einen bauernschlauen Verstand, aber auch das trübe Wesen und den Hang zu grundloser Schwermut mit. Da mir bestimmt war mich lange außerhalb der Heimat bei Fremden herumzuschlagen, wäre es schon besser gewesen, statt dessen einige Beweglichkeit und etlichen frohen Leichtsinn mitzubringen.
So ausgestattet und mit einem neuen Kleide versorgt trat ich die Reise ins Leben an. Die elterlichen Gaben haben sich bewährt, denn ich ging und stand in der Welt seither auf eigenen Füßen. Dennoch muß irgend etwas gefehlt haben, das auch die Wissenschaft und das Weltleben mir nimmer einbrachte. Denn ich kann heute noch wie je einen Berg zwingen, zehn Stunden marschieren oder rudern und nötigenfalls einen Mann freihändig erschlagen, zum Lebenskünstler aber fehlt mir heute noch so viel wie damals. Der frühe einseitige Umgang mit der Erde und ihren Pflanzen und Tieren hatte wenig soziale Fähigkeiten in mir aufkommen lassen und noch jetzt sind meine Träume ein merkwürdiger Beweis dafür, wie sehr ich leider einem rein animalischen Leben zuneige. Ich träume nämlich sehr oft, ich liege am Meeresstrand als Tier, zumeist als Seehund, und empfinde dabei ein so gewaltiges Wohlbehagen, daß ich beim Erwachen den Wiederbesitz meiner Menschenwürde keineswegs freudig oder mit Stolz, sondern lediglich mit Bedauern wahrnehme.
Ich ward in üblicher Weise mit Freiplatz und Freitisch an einem Gymnasium erzogen und war zum Philologen bestimmt. Niemand weiß, warum. Es gibt kein unnützeres und langweiligeres Fach und keines, das mir ferner lag.
Die Schülerjahre gingen mir rasch dahin. Zwischen Balgereien und Schule kamen Stunden voll Heimweh, Stunden voll frecher Zukunftsträume, Stunden voll ehrfürchtiger Anbetung der Wissenschaft. Zwischenein trat auch hier meine angeborene Trägheit hervor, trug mir allerlei Ärger und Strafen ein und wich dann irgend einem neuen Enthusiasmus.
„Peter Camenzind,“ sprach mein Griechischlehrer, „du bist ein Trotzkopf und Einspänner und wirst dir noch einmal den harten Schädel einrennen.“ Ich betrachtete den feisten Brillenträger, hörte seine Rede an und fand ihn komisch.
„Peter Camenzind,“ sprach der Mathematiklehrer, „du bist ein Genie im Faullenzen und ich bedaure, daß es kein niedrigeres Zeugnis gibt als Null. Ich schätze deine heutige Leistung auf minus zweieinhalb.“ Ich sah ihn an, bedauerte ihn da er schielte, und fand ihn sehr langweilig.
„Peter Camenzind,“ sagte einmal der Geschichtsprofessor, „du bist kein guter Schüler, aber du wirst trotzdem einmal ein guter Historiker werden. Du bist faul, aber du weißt Großes und Kleines zu unterscheiden.“
Auch das war mir nicht extra wichtig. Dennoch hatte ich vor den Lehrern Respekt, denn ich dachte sie seien im Besitze der Wissenschaft, und vor der Wissenschaft empfand ich eine dunkle, gewaltige Ehrfurcht. Und obschon über meine Faulheit alle Lehrer einig waren, kam ich doch vorwärts und hatte meinen Platz über der Mitte. Daß die Schule und die Schulwissenschaft ein unzulängliches Stückwerk war, merkte ich wohl; aber ich wartete auf später. Hinter diesen Vorbereitungen und Schulfuchsereien vermutete ich das reine Geistige, eine zweifellose, sichere Wissenschaft des Wahren. Dort würde ich erfahren, was die dunkle Wirrnis der Geschichte, die Kämpfe der Völker und die bange Frage in jeder einzelnen Seele bedeute.
Noch stärker und lebendiger war eine andere Sehnsucht in mir. Ich wollte gern einen Freund haben.
Da war ein braunhaariger, ernsthafter Knabe, zwei Jahre älter als ich, namens Kaspar Hauri. Er hatte eine sichere und stille Art zu gehen und dazusein, trug den Kopf männlich fest und ernst und sprach nicht viel mit seinen Kameraden. An ihm blickte ich monatelang mit großer Verehrung empor, hielt mich auf der Straße hinter ihm her und hoffte sehnlich von ihm bemerkt zu werden. Ich war auf jeden Spießbürger eifersüchtig, den er grüßte, und auf jedes Haus, in das ich ihn eintreten oder aus dem ich ihn kommen sah. Aber ich war zwei Klassen hinter ihm zurück und er fühlte sich vermutlich der