Aber selbst die Buntheit des Südens sollten wir nicht lange vermissen, als wir High-Street entlangschritten. An allen Ecken standen Hochlandssöhne mit Kilt und Plaid, nicht genau in die Farben ihrer Clans gekleidet, aber immer noch bunt genug, um das Bild zu beleben. Es waren Werbeunteroffiziere von den Highlanders, »Kameraden von der hohen Nummer«, was in England einen stolzen Klang hat, wo die Nummern 72. und 93. auf den Hochlandsschultern zweier berühmter Regimenter stehen. Vieles ist gegen die Hochlandstracht im allgemeinen gesagt und geschrieben worden, und gewiß mit Recht, aber malerisch ist und bleibt sie. Selbst das Zwitterkostüm der Hochlands- Regimenter, die oben den abgeschnittenen roten Frack der Engländer adoptiert, nach unten hin aber den Kilt und die Nacktbeinigkeit in aller Integrität bewahrt haben, ist immer noch eine Schöpfung von relativer Geschmacksfülle. Unter allen Umständen fehlt – die Hose, dieser Triumph des Praktischen über die Schönheit. Kurz vorher, eh' wir nach Schottland aufbrachen, hatten wir in London die Straßen und Plätze besucht, auf denen der englische Werbeunteroffizier sein Wesen treibt. Es war uns somit eine vortreffliche Gelegenheit zum Vergleich gegeben. Der Vergleich fiel sehr zugunsten Schottlands aus. In beiden Fällen, hier wie dort, war das Bierhaus Station und Sammelplatz; aber der echte Hochländer, der, wie das Sprichwort sagt, sich schon die Muttermilch mit Whisky verdünnt, scheint dem Werbegeschäft besser gewachsen zu sein. Er bleibt nüchtern. Breakfast und Lunch (zweites Frühstück) waren längst vorüber, doch unangefochten, fest, gradlinig, gravitätisch schritten ein paar Sergeanten vom Sutherland-Regimente auf und ab, uns musternd und dann grüßend, als wir an ihnen vorübergingen. Sie hatten in meinem Gefährten den »alten Offizier« herauserkannt. Dasselbe passierte uns in Stirling ein paar Tage später. Das Ganze gab ein schönes Bild; auf dem dunklen Hintergrunde hoben sich die bunten Trachten trefflich ab, gegenüber stiegen die grauen Häuser turmartig in die Luft, und aus der Ferne, nur leise von Nebel umhüllt, grüßte Edinburg-Castle.
Dieser Gruß mahnt uns zur Eile. Zunächst erreichen wir die Börse, die sogenannten Exchange-Buildings. Vor derselben, den Rücken gegen das Gebäude, machen wir halt, um Umschau zu halten. Wir blicken zunächst gegenüber auf die linke Seite der Straße. High-Street buchtet sich hier, nach Süden hin, platzartig aus; die St.-Giles-Kirche indes, die sich inmitten dieser Ausbuchtung (Parlaments-Square geheißen) erhebt und mit einer ihrer Seitenfronten bis in High-Street vorspringt, stellt dadurch die unterbrochene Straßenlinie wieder her. Wir befinden uns angesichts dieses Platzes im Mittelpunkte von High-Street und in mehr als einer Beziehung am wichtigsten Punkte Edinburgs überhaupt. Den ehrwürdigen Bau, in dem Knox predigte, unmittelbar vor uns, übersehen wir zu gleicher Zeit die Mehrzahl der Gebäude, die sich hakenförmig um diese Kirche herum gruppieren: das Rathaus, das Parlamentsgebäude und die Gerichtshöfe. Alle diese Häuser, einschließlich des Börsengebäudes, an das wir lehnen, sind entweder neu oder doch neuerlichst so gründlich repariert, daß sie den Eindruck von Neubauten machen. Es soll damit kein Tadel ausgesprochen sein, um so weniger, als die Änderungen, die vorgenommen wurden, aus Verkehrs- und Gesundheitsrücksichten dringend geboten erschienen. Auch wär' es unbillig, in Abrede zu stellen, daß der Platz, wie er da ist, immer noch den Eindruck des Stattlichen, des Großstädtischen macht. Das alles sei zugegeben. Aber andrerseits freilich trägt dieses Rathaus, das z. B. den athenischen Tempel des Erechtheus kopiert, ein völlig fremdes Element in die alte High-Street von Edinburg hinein und erzeugt notwendig den Wunsch in uns, daß es auf eine kurze halbe Stunde wieder so sein möchte wie vordem. Da war alles aus einem Guß; eckig, winklig, verbaut, aber malerisch. Links vor uns an der Nordostecke der Kirche erhob sich das Wahrzeichen der Stadt, das »City-Kreuz«, während rechts an der Nordwestecke das alte Tolbooth-Gefängnis mit seinen Erkern und Türmen aufwuchs und die High-Street beinah absperrte. Nichts von Säulen und Pilastern zog sich damals an den Steinfassaden der alten Gerichts- und Parlamentsgebäude entlang, und statt der ängstlichen Sauberkeit des frisch abgeputzten St. Giles, präsentierte sich der alte Bau im Schmuck seiner Buden und Kramläden, die sich eng und niedrig unter die gotischen Fenster gekauert oder in voller Breite zwischen den Strebepfeilern etabliert hatten. Das Mittelalter hatte doch recht, und unsere Purifikation, wo immer sie sich breit macht, hat oft herzlich wenig von dem guten Geschmack an sich, den sie in großen Buchstaben auf ihre Fahne schreibt. Die alten Kirchen wuchsen wie aus dem Leben des Volks hervor, und deutungsreich war es, wenn Bürger und Händler am Mauerwerk ihrer Kirche ihr Nest zu bauen liebten. Es war eine Verwachsenheit da, die jetzt fehlt. Kalt, sauber, sonntäglich erheben sich unsere Kirchen neben uns, und wir sehen uns in ein festtägliches Verhältnis zu jenen Plätzen gebracht, wo sonst der Umgang, die Liebe, die Vertraulichkeit, auch wohl die Ungeniertheit des alltäglichen Lebens war.
Mit der St.-Giles-Kirche und ihrer Umgebung haben wir den Höhepunkt des Interesses erreicht, das uns die High-Street gewähren kann. Weiter hinauf werden die Häuser wieder baufälliger und kümmerlicher, und die paar Ausnahmen, die uns begegnen, bieten nicht Stoff genug, um bei ihnen zu verweilen. Wir befinden uns jetzt in gleicher Höhe mit der dritten und letzten der High-Street-Kirchen (der sogenannten Assembly-Hall, in der alljährlich die General-Synode sich zu versammeln pflegt), biegen aber, anstatt den kahlen Wänden einer neugebauten schottischen Kirche einen bloßen Anstandsbesuch zu machen, lieber in die gegenübergelegene Gasse und ein dicht daran anstoßendes Gärtchen ein, um der Poetenwohnung Allan Ramsays, dieses nordischen Hans Sachs, einen Blick zu gönnen. Aber auch nur einen Blick; die Stille, die Abgeschlossenheit, die Lieblichkeit des Orts, die uns zu einer andern Zeit gewiß auf längere Minuten gefesselt hätte, hält uns heute nicht, denn immer näher hören wir militärische Musik die Wege und Windungen des Hügels heraufkommen. Die Neugier treibt uns zu sehen, was es gibt. In demselben Augenblick, wo wir den Platz erreichen (Esplanade genannt), der vor dem Mauer- und Festungswerk von Edinburg-Castle sich ausdehnt, erscheinen auch, Musik vorauf, die ersten Sektionen eines englischen Regiments zu unsrer Rechten und marschieren, den Platz in seiner Breite überschreitend, dem geöffneten Festungstore zu. Es sind dies die Sussex-Milizen unter Führung ihres Obersten, des Herzogs von Richmond. Bis vor wenig Tagen in Dover garnisoniert, hat eine vielleicht unerwünschte Ordre sie aus dem Süden Englands plötzlich nach Edinburg geführt. Edinburg-Castle tritt an die Stelle von Dover-Castle, Scharen von Volk, jung und alt, Weiber und Kinder, folgen ihnen nach, um an den »Southrons« (d. h. die Südlichen) ihren Witz und ihre Malice zu üben. Auch wir schließen uns dem Zuge an, und während das »Britische Grenadiere« lustig weiter klingt und die Schloßwache ins Gewehr tritt, ziehen wir durch allerhand Tor- und Gitterwerk lachend mit ein in Schloß Edinburg.