Trotzdem setzte sich die völkisch-nationalistische Führungsgruppe zunächst recht erfolgreich an die Spitze des revolutionären Aufbruchs, der zu Beginn des November 1918 durch die Matrosenrevolte in den Standorten der Kriegsmarine ausgelöst wurde.
Am 7. November übernahm Gustav Noske den Gouverneursposten in Kiel und verband ihn mit dem Vorsitz im dortigen Arbeiter- und Soldatenrat. Zwei Tage später proklamierte Philipp Scheidemann im Wettlauf mit der oppositionellen Spartakusgruppe den Übergang des Kaiserreichs zur Republik. Friedrich Ebert und er arrangierten sich mit der USPD- Führung und sicherten sich zusammen mit Otto Landsberg eine dominierende Rolle in einem improvisierten Übergangskabinett, dem „Rat der Volksbeauftragten“. Dabei ging es ihnen aber nicht um die Wiederherstellung der fraktionierten Arbeiterbewegung und die gemeinsame Einleitung eines entschiedenen Reformkurses, sondern nur um die Camouflage ihres strategischen Bündnisses mit den Herrschaftseliten des wankenden Regimes, das weiterhin oberste Priorität genoss. Am 10. November 1918 schloss Ebert einen gegenrevolutionären Pakt mit Wilhelm Groener, dem politischen Kopf der Obersten Heeresleitung (OHL)3, und eine knappe Woche später verschafften ihm Carl Legien und der Rüstungsindustrielle Hugo Stinnes in Gestalt einer „Zentral-Arbeitsgemeinschaft“ der Unternehmerverbände und der Gewerkschaften die erforderliche sozial- und wirtschaftspolitische Basis. 4 Unter diesen Voraussetzungen suchten sie dann dem Umsturzprozess die Spitze zu nehmen und „Ruhe und Ordnung“ wiederherzustellen. Dabei überrumpelten und desavouierten sie immer wieder die USPD-Vertreter des Rats der Volksbeauftragten und machten die ihnen missliebig erscheinenden Beschlüsse des inzwischen nach Berlin einberufenen Reichs-Rätekongresses zu Makulatur.
Mordaufruf: Nachdem rechte Gegner der Weimarer Republik zum Mord an Karl Liebknecht aufgerufen hatten, tauchten der KPD-Führer und seine Mitstreiterin Rosa Luxemburg unter. Es half nicht mehr - sie wurden verraten, verhaftet, misshandelt und von Angehörigen der Gardekavallerie-Schützen-Division ermordet
So wurde im Verlauf des Dezember 1918 offenkundig, dass die MSPD-Führung auch zu den reformorientierten Fraktionen der Massenbewegung ihre Brücken abgebrochen hatte. Sie setzte ausschließlich auf die Soldateska, bei der sie dank ihres langjährigen Militärexperten Gustav Noske und ihrer Kooperation mit den Propaganda und Nachrichtendiensten der Obersten Heeresleitung wohlgelitten war. Noske war es gelungen, Teile des Marine-Offizierskorps, nämlich die Nautiker (Decksoffiziere), auf
den MSPD-Kurs einzuschwören. Sie hatten schon bei der Unterdrückung der Matrosenrevolte von 1916/17 eine wichtige Rolle gespielt. Deshalb war Noske auch Ende September 1918 bei der Entscheidung zur Einleitung von Friedensverhandlungen mit den Entente-Mächten als Schlüsselfigur einer Regierungsumbildung in Vorschlag gekommen. Nun wurde er mit seinen Kieler Offizierskameraden in Berlin dringend benötigt, denn die dort einrückende und als Kristallisationskern der militärischen Gegenrevolution ausersehene Garde-Kavallerie-Schützendivision brauchte Verstärkung.
Bei ihrer Ankunft wurde sie von Ebert enthusiastisch begrüßt: „Kein Feind hat euch überwunden“, rief er. „Auf euch vor allem ruht die Hoffnung der deutschen Freiheit. Ihr seid die stärksten Träger der deutschen Zukunft.“ Damit war der Rubikon überschritten.
Die anhaltende und immer stärker auf eine „zweite Revolution“ drängende Massenbewegung der demobilisierten Soldaten, der Arbeiterinnen und Arbeiter und der pazifistischen Intelligenz sollte nicht durch die Einleitung eines großzügigen Reformprogramms kanalisiert, sondern mit Hilfe des militärischen Restkaders des Wilhelminismus niedergeschlagen und gedemütigt werden.
Diese endgültige strategische Festlegung blieb den Akteuren der sich zunehmend politisch formierenden Sozialrevolte nicht verborgen. Als sie sich seit dem Jahreswechsel 1918/19 entschieden gegen die Provokationen der gegenrevolutionären Soldateska zur Wehr setzten, gab der inzwischen nur noch aus Mehrheitssozialdemokraten bestehende Rat der Volksbeauftragten der Obersten Heeresleitung freie Hand zum Massenmord. Er unterstützte jetzt ein Konzept der bedingungslosen Gewaltanwendung gegen die eigene aufständische Bevölkerung, das der SPD-Militärexperte Noske 1911 noch scharf kritisiert hatte.5 Die sich politisch formierende Alternative sollte vernichtet werden, und zwar ihre Widerstand leistenden Basisaktivisten genauso wie ihre führenden Köpfe. Kurz vor der Verhaftung und Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts schrieb ein Generalmajor der Obersten Heeresleitung in sein Tagebuch: „Ebert und Scheidemann zittern (…) vor Liebknecht und Rosa und wünschen ihr Verschwinden (auf kriminelle Art), nur: Sie wollen nichts davon wissen, nichts damit zu tun haben.“6
Diese Notiz dokumentiert exakt die Taktik des arbeitsteiligen Vorgehens bei der Bekämpfung des Januaraufstands in Berlin, der Niederschlagung der daraufhin proklamierten Räterepubliken in Bremen und München sowie der Märzkämpfe 1919, die der Gegenrevolution den entscheidenden militärischen Durchbruch brachten. Seit dem 6. Januar amtierte Noske als Oberbefehlshaber der gegenrevolutionären Truppen in Berlin sowie nach der Ernennung der neuen Reichsregierung durch die Weimarer Nationalversammlung als Reichswehrminister. Als Repräsentant der regierenden Mehrheitssozialdemokratie und unter dem Applaus der MSPD-Reichstagsfraktion gab er den Militärstäben freie Hand. Am 9. März 1919 erließ er einen von Waldemar Pabst, dem Stabschef der Garde-Kavallerie-Schützendivision, vorformulierten Erschießungs-befehl, der von Pabst nochmals verschärft wurde, und sicherte den Mördern auf einer Offiziersbesprechung Straffreiheit zu, auch wenn sie noch über diesen Befehl hinausgingen. Dabei machten er und seine Mentoren Ebert und Heine sich die barbarische Tätersprache der Militärkaste zu Eigen: Je brutaler und härter das Vorgehen, desto kürzer der Kampf, wiederholten sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Die Soldateska der Regierungstruppen und der mit ihnen assoziierten Freikorps galten dieser politischen Troika der Gegenrevolution schließlich sogar als einzige Garanten der „deutschen Zukunft“ – und nicht mehr eine wie deformiert auch immer daherkommende Arbeiterbewegung.
Trotzdem wurde weiter auf Camouflage Wert gelegt. Die Ermordung der prominenten politischen Gegenspieler/-innen und ihres aktiven Anhangs wurde dringend gewünscht, aber nicht direkt befohlen. Dies war auch nicht nötig, denn die dafür geschaffenen institutionellen Rahmenbedingungen und Garantien genügten. Zusätzlich wurde alles vermieden, was als direkte Restauration der alten Machtverhältnisse hätte gedeutet werden können. Dieses Vorgehen verschaffte der deutschen Gegenrevolution eine besondere Legitimationsbasis, die bis heute fortwirkt: Die Massenmorde der Soldateska erschienen nicht als erste Symptome des heraufziehenden Faschismus, sondern geschahen unter dem Vorwand, eine sich formierende repräsentativparlamentarische Ordnung schützen zu müssen. Hinzu kam die außenpolitische Begründung, hart zuschlagen zu müssen, um nicht den Siegermächten einen Vorwand zur Blockade der Lebensmittelimporte oder gar zum Einmarsch und zum Aufbau einer Besatzungsherrschaft zu liefern. In diesen und anderen Maskeraden kam die Gegenrevolution daher, und die Symbiose zwischen den Militärs und der Mehrheitssozialdemokratie neigte sich erst in jenem Augenblick ihrem Ende zu, als die sozialdemokratisch geführte Reichsregierung nicht in der Lage war, die von den Entente-Mächten geforderte Auflösung der Freikorps zu verhindern. Im März 1920 wurde ihr dann in Gestalt des Kapp-Lüttwitz-Ludendorff-Putschs die Rechnung präsentiert, wie Waldemar Pabst, einer der Organisatoren des Putsches, dies auf den Begriff brachte:
„Wir wollten und mussten zunächst einmal (…) ein Stück mit den Sozialdemokraten marschieren, um unseren gemeinsamen Feind, den ›Spartakismus‹ abzuwürgen. War dies geglückt, dann wollten wir unseren bisherigen Verbündeten die Rechnung vom November 1918 vorlegen und von ihnen begleichen lassen.“7
Mit der Bewilligung der Kriegskredite am 4. August 1914 wurde die deutsche Sozialdemokratie Teil der wilhelminischen Propaganda- und Rüstungsmaschinerie