Um 23:30 Uhr versuchte Eier-Otto in Höhe des geparkten Polos` s auf dem Gehweg geradeaus zu gehen.
Er benutzte die gesamte Breite des Weges und erinnerte an einen Seemann, der sich bei Windstärke acht mühsam bemühte, auf einem Schiffsdeck vom Heck Richtung Bug zu gehen.
Durch das flackernde Licht einer Straßenlaterne konnte der verfolgende Fahrer des Polo s die Konturen Eier-Ottos deutlich erkennen. Er warf einen hastigen Blick zu beiden Seiten der Erichstraße, die zu dieser Uhrzeit am Montag nicht mehr so stark von Freiern frequentiert wurde.
Aus Richtung Davidstraße kam ein torkelndes Pärchen, dass gerade in Höhe seines Polo s wankte. Der Polo- Fahrer sah die dreckigen Gesichter des Paares. Die schattigen Augen, die eingefallenen Wangen. Die Haut war zerfurcht, die Zähne nur noch Rudimente eines einstmals vollständigen Gebisses. Die braunen Augen der Frau blickten aus tiefen Höhlen. Die körperlichen Entzugserscheinungen waren deutlich zu erkennen. Sie krampften und zuckten wie Alkoholiker, zeigten deutliche Wesenszüge, als wenn die Weiße Dame, Kokain und Heroin, sie besucht hätte. Der Kopf des Mannes kippte immer wieder nach unten, als wenn er jeweils einen Schalter umgelegt hatte. Es war wohl das dumpfe Gefühl der Ausweglosigkeit. Häufig war die Habe weniger, als in den Rucksack passte, weil Drogen mit Obdachlosigkeit einhergingen.
Der Polo- Fahrer reunte weiter die Hausfassaden der Erichstraße ab. Die Koberfenster von Puff- Uwe s Bordell waren unbesetzt, Die Dirnen schienen allesamt beschäftigt zu sein. Ihm war schon bewusst, dass er so unangenehm wie eine Cobra sein konnte. Einen Moment hielt er inne, bis die Drogenkonsumenten Eier- Otto passiert hatten und weiter in Richtung Balduinstraße getorkelt waren.
Er zielte auf den Schädel von Eier-Otto und krümmte mit dem rechten Zeigefinger den Abzugshebel der Pistole durch, die einen aufgeschraubten Schalldämpfer besaß. Bevor das Geschoß die Pistole mit einem leisen plopp verließ, stolperte Eier- Otto einige Sekunden zuvor über eine abgesenkte Gehwegplatte und kam ins Straucheln.
Otto spürte einen heftigen Schlag an den linken Oberarm; hart und trocken, als wenn ihn ein scharfkantiger Stein getroffen hätte.
Er vernahm keinen Schmerz, während er sich schnaufend und prustend in den Innenhof von Puff-Uwe s Bordelleinheiten schleppte.
Eier- Otto keuchte stolpernd vorwärts, sein linker Arm fühlte sich wie gelähmt an. Warmes Blut tropfte nicht aus seinem Hemdsärmel, nein, es floss in Strömen den Arm hinunter und von dort auf das Hofpflaster. Er ließ sich, eine deutliche Blutspur hinter sich lassend, in einer dunklen Hausecke flach ins Gebüsch fallen. Otto war nicht mehr Herr seiner Sinne. Von Minute zu Minute verschwand alles wie hinter einer Nebelwand; wurde düster…
Der Schütze schien seine Spur verloren zu haben. Eier-Otto brach in Schweiß aus, fühlte sich verlorener denn je. Er dachte an die Reaktionen, während ihn die Wut packte.
Also schön, ich habe verstanden. Mit der Partie ist es aus. Sie ist ja eine scharfe Braut, die Biggi. Ihre üppigen Brüste und dazu der knackige Arsch, wie reife Kokosnüsse. Alle diese Attribute hatten auf ihn wie eine Einladung gewirkt. Mollige bedeuten mehr Spielzeug, mehr Spaß, sinnierte er. Ich hatte gedacht, dass auch ein freundschaftliches Beisammensein Spaß machen würde.
Nein, ich wollte sie nicht abgraben, aber, wenn ich eines gelernt habe: Niemand schenkt dir etwas, du musst es dir einfach nehmen, ist leider so. Ein Irrtum meinerseits? war der widersprüchliche Gedanke von Otto, dessen Atem flacher wurde.
Seine Augenlider wurden schwer, er hatte Mühe, sie offen zu halten. Er ahnte Schreckliches, als zöge sich ein unsichtbares Netz immer enger um ihn zusammen.
Aus der Ferne tönte ein deutlich hörbares Signalhorn. Polizei, Feuerwehr oder Rettungswagen; er wusste es nicht?
Eier- Otto hörte kräftige, näherkommende, klackernde Absätze auf dem gepflasterten Innenhof, wühlte sich mit letzter Kraftanstrengung tiefer in das Gestrüpp, um sich zu verstecken, während der Schütze mehrmals in die Blutspur von Otto latschte. Der Geruch des Todes lag in der Luft…
Kapitel 2
Montag, 18.08.1975, 21:00 Uhr, Hamburg- St. Georg, Nobelbordell „Blauer Engel“.
Es war die Erste und teuerste Adresse Hamburgs für die Hanseatische Gesellschaft, die etwas Zerstreuung suchte und Dampf ablassen wollte von dem beruflichen und häuslichen Alltagsstress.
Der Portier des Etablissements in seinem Livre` war für angenehme Benimmregeln und Diskretion bekannt. Täglich ab 22:00 Uhr war er bis 04:00 Uhr in der Früh auf seinem Posten. Leck- Hans war stolz, seine Berufskleidung gestellt bekommen zu haben; und dass er nun seit Jahren endlich im ersten Haus am Platze angekommen war. Stets setzte er eine vergnügliche Miene auf, wenn ein Gast um Einlass bat; seine Zungenspitze kreiste dabei unaufhörlich über Ober- und Unterlippe.
Im Foyer des Hauses hing ein überdimensionales, mit Goldrahmen verziertes Bild auf dem zu lesen war:
Der Blaue Engel steht für Sinnhaftigkeit, Jungfräulichkeit und einer Spur Ruchbarkeit. Wir wünschen Ihnen angenehme, entspannte Stunden in unserem Haus. Sie kamen als Fremder und gehen als Freund.
Schweine-Willy hatte sein Haus über Jahre mit Akribie zu dem gemacht, was es nun darstellte. Er hatte ein neues Frauenbild kreiert, die Femme Fatale geschaffen.
Es waren männerverschlingende Frauen, die den testosterongesteuerten Freier ins Verderben lockten. Die anwesenden Dirnen waren sorgfältig von ihm nach Schönheit, Intellekt und ausgezeichneten Manieren ausgewählt worden, wie auch das weibliche und männliche Personal an der Bar.
Allesamt hatten die Edelhuren einen Zuhälter. Willy Wichtig hatte ausdrücklich untersagt, dass die Dirnen von ihren Luden bei Schichtbeginn vor dem Portal aus den protzigen Schlitten ihrer Beschützer aussteigen durften. Sie hatten über den Hinterausgang das Bordell zu betreten und zu verlassen.
Schweine- Willy hatte eine Vereinbarung mit dem Pächter des auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindlichen Hotels getroffen. Die Dirnen gingen ausschließlich bei ihm der Prostitution nach und nutzten den Blauen Engel lediglich zur Kontaktaufnahme. Die Zimmermiete für das Stundenhotel hatten die Freier zu zahlen. Der Hotelier wiederum zahlte Schweine- Willy vierzig Prozent Provision von der Zimmermiete, natürlich cash. Irgendwie musste Willy sich seinen Rolls Royce, die Yacht und die Villa in Blankenese nebst den sonstigen Annehmlichkeiten leisten können.
Ausnahmslos montags, um 21:00 Uhr, traf sich im Kellergeschoß des Blauen Engel der von Schweine -Willy ins Leben gerufene Verein „Immertreu“.
Willy Wichtig hatte den Verein vor zwei Jahren aus egoistischen Gründen hauptsächlich zu seiner Gewinnmaximierung gegründet.
Es war der sogenannte Ringverein, der für die Mitglieder durch einen besonderen Siegelring erkennbar wurde, den man sich verdienen musste.
Der protzige Ring bestand aus achtzehnkarätigem Weißgold, die Fassung zeigte einen üppigen, furchtaussehenden Totenkopf. Links und rechts des Ringes war jeweils das Monogramm des verdienenden Trägers graviert.
Schweine- Willy finanzierte die Ringe und ließ sie bei besonderem Anlass von einem Juwelier auf der Reeperbahn zu vereinbarten Sonderkonditionen in Auftrag geben.
Jedes Mitglied war sich des besonderen Rituals bewusst, dass nur bedingungsloser Gehorsam bis in den Tod ihr Handeln bestimmte.
Es waren die Regeln, die Schweine- Willy formuliert hatte und ständig von ihm evaluiert wurden. Sie verhalfen ihm zu einem Vermögen der besonderen Art. Er wollte seinen Clan ganz oben sehen, allen Widerspenstigen sein Mal einbrennen. Schon gar nicht war es seine Absicht, der Billigheimer der Nation zu werden. Nichts gab es zum Nulltarif. In diesem Land ging nur die Sonne umsonst auf,