Iva Okërn
Stell' dich nicht so an! Leben mit dem chronischen Erschöpfungssyndrom ME/CFS
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Inhaltsverzeichnis
Die Mitbetroffenen des*der ME/CFS
Ideen zur Verbesserung der Situation des*der ME/CFS
Vorwort
Ich bin entsetzt!
Da habe ich endlich mit Hilfe der behandelnden Ärzte und Ärztinnen herausgefunden, unter welcher Erkrankung ich leide, da hoffe ich auf Hilfe und Therapien wie etwa effektive Medikamente, um bald wieder arbeiten zu können und etwas Lebensqualität zurückzuerhalten, und muss erfahren: die Krankheit ist noch so unerforscht, dass es weder eine eindeutige Diagnostik noch kurative Behandlungen gibt. Das heißt, eine Heilung der Erkrankung ist aktuell nicht möglich, lediglich einzelne Symptome können behandelt werden.
Zuerst bin ich sprachlos. Und meine Sprachlosigkeit steigert sich, als ich erfahre, dass es weltweit sehr viele Betroffene gibt, dass seit Ausbruch der Covid-Pandemie die Zahl der Betroffenen steigt, dass das Leiden der Betroffenen und ihrer Angehörigen teils extrem ist, dass eine unerhörte gesellschaftliche Ausgrenzung besteht, dass der wirtschaftliche Schaden hoch ist, der durch die Erkrankung entsteht, und trotzdem ein allgemeines Interesse zu fehlen scheint, um Forschung und Anerkennung der ME/CFS voranzubringen.
ME/CFS – das heißt Myalgische Enzephalomyelitis/ Chronic Fatigue Syndrom (Chronisches Er- schöpfungssyndrom), ein krankhafter Er- schöpfungszustand auch schon nach geringer Belastung und Aktivität, oftmals verbunden mit Muskel- und Gelenkschmerzen und mitunter vielen weiteren Symptomen. ME/CFS ist eine sehr schwere neuroimmunologische Erkrankung. Die Lebens-qualität der meisten Betroffenen ist extrem gering. Ich selber bin 'nur' moderat betroffen und erlebe dennoch eine gewaltige Einschränkung meines Lebens.
Meine Sprachlosigkeit wird allmählich von ohnmächtiger Wut abgelöst. Zunächst ist die Wut trotzig („Warum hilft mir denn keiner?“), doch dann wandelt sie sich in Tatkraft, befeuert meinen Verstand und meine Fantasie: hier ist ein Problem, wie kann ich es kreativ angehen? Was kann ich aktiv tun, um nicht nur für meine Person einzutreten, sondern auch für andere Betroffene, damit die Erkrankung eine Öffentlichkeit erhält und die entsprechenden Fachleute in Medizin, Wissenschaft, Gesundheits- und Sozialwesen, Politik und Gesellschaft bewogen werden, sich noch intensiver mit ihr auseinanderzusetzen?
Leider bin ich keine Medizinerin. Das wäre es jetzt gewesen! Am besten wäre ich Internistin oder Neurologin! Ich hätte mit der ME/CFS mein Fachgebiet gefunden und mich auf die Chronische Erschöpfung spezialisiert.
Aber dafür habe ich andere Fähigkeiten, die im Bereich 'Sprache' liegen.
Es liegt für mich also nahe, als Betroffene über ME/CFS zu schreiben, eine möglichst genaue Selbstbeobachtung zu verfassen, die vielleicht denjenigen hilft, die noch den langen und quälenden Weg hin zu einer Diagnose gehen; vielleicht erkennen sie in meinem Erleben ihr eigenes wieder und kommen einer Bestimmung ihrer Krankheit schneller entgegen. Vielleicht bietet es auch Mediziner*innen einen Anreiz, sich mit der Erkrankung auseinanderzusetzen. Das wäre gerade angesichts der gegenwärtigen Krisenzeit angeraten, denn eine Corona-Infektion kann ME/CFS auslösen; vieles, was momentan noch unter 'Long-Covid' erfasst wird, ist möglicherweise eine ME/CFS.
Und nicht zuletzt verstehe ich mein Buch als Selbsthilfe: es hilft mir selber bei der Reflexion, Aufarbeitung und Neuorientierung. Es ist stellenweise humorvoll geschrieben – denn Humor tröstet mich hin und wieder.
Im ersten Kapitel schildere ich wie meine Tage und meine Nächte im Schatten der Erkrankung aussehen. Der zweite Abschnitt zählt Krankheiten und Merkmale auf, die teils typisch für ME/CFS-Betroffene sind, teils auch als Ursachen der Erkrankung diskutiert werden. Das anschließende Kapitel beschreibt meine Situation kurz vor und während meines endgültigen Zusammenbruchs, der zu einem schier endlosen Diagnosemarathon führte (Viertes Kapitel).
Im fünften Kapitel kläre ich die Definition von ME/CFS, wer aber den steinigen und wirrenden Weg hin zur Diagnose mitempfinden möchte, so, wie ihn eben viele ME/CFS-Erkrankte und ihre Angehörigen gehen müssen, der ist eingeladen, mir bis dahin von Kapitel zu Kapitel zu folgen.
Wie steht es mit den Mitbetroffenen der Erkrankung, Familie und Freunden beispielsweise? Welche Unterstützung benötigen ME/CFS-Patienten und -Patientinnen von der Gesellschaft? Mit diesen Fragen befassen sich die beiden Schlusskapitel.
Nur zu klagen bringt wenig und ist so gar nicht meine Art. In die letzten Kapitel sind daher zahlreiche Impulse zur Hilfe und Selbsthilfe eingestreut. Leider sind die Betroffenen hauptsächlich zur Selbsthilfe verurteilt – ich hoffe inständig, dass sich das in nächster Zeit ändert.
Ich hoffe, mein Text signalisiert Mitleidenden, dass sie nicht allein sind. Der Weg hin zu der Diagnose ME/CFS ist nämlich mühselig und oft irreführend. Auf ihm kann es verdammt einsam werden.
Er ist mit Unverständnis, Unkenntnis und dem folternden Satz „Stell dich nicht so an“ gepflastert.
Iva Okërn M.-A., Oktober 2021
PS: Ich schreibe aus Rücksicht auf meine Familie, Freunde und Arbeitsstätte ausnahmsweise unter einem Pseudonym.
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