Interessanter waren für Forbach die Damen selber, die sich in diesem Chaos von Gebrüll mit einander unterhielten als ob sie sämtlich taub wären und nun einander in die Ohren schreien müßten.
Die Rieke der jungen Frau Erich machte allerdings den unausgesetzten, aber hier völlig verzweifelten Versuch, ihr Kind in den Schlaf zu bringen, und Elise Erich theilte anfangs ihre Aufmerksamkeit noch zwischen der Freundin und dem „Wonnekind“, das sich hier entschieden für berechtigt hielt, seine Stimme ebenfalls mit abzugeben. Es half nichts: der Paroxysmus mußte erst vorübergehen, und ging auch, sobald die Kinder selber anfingen, ihren eigenen Heidenlärm zu hören, und dann, wie erstaunt darüber, schwiegen.
Forbach fand hier übrigens sehr gemischte Gesellschaft. In der allgemeinen Calamität, welche die Stadt durch die Epidemie heimsuchte, war Alles herbeigeeilt, um den Schutz der Impfung zu suchen – vornehme Damen und arme Frauen mit ihren Kindern, und der Stadtphysikus durfte schon gar keinen Unterschied machen, oder irgendwen begünstigen, denn die Bürgerschaft selber hätte da augenblicklich Lärm geschlagen. Wie die Leute eintrafen, so wurden sie abgefertigt, und eine bunter gemischte Gesellschaft ließ sich deshalb kaum denken, als sie dort auf den Bänken saß, oder sich auf- und abgehend dazwischen herumtrieb.
Das allein beruhigte Forbach, daß der Stadtphysikus mit einer wirklich fabelhaften Schnelligkeit arbeitete. Es befanden sich stets drei Parteien in seinem Zimmer, von denen die eine geimpft wurde, während sich die anderen dazu vorbereiteten, oder nach der Impfung die Kleider wieder ordneten. Er ließ sich auch dabei nicht stören, ging auf keine Fragen der darin sonst unersättlichen Mütter ein, und trieb das Ganze allerdings /58/ vollkommen geschäftsmäßig, aber dafür auch mit rascher und geschickter Hand.
Uebrigens war Forbach eine in der Stadt zu bekannte Persönlichkeit, um nicht auch hier eine Menge von bekannten Persönlichkeiten zu finden.
„Ei, nun sehen Sie einmal an,“ sagte ein altes, eingerunzeltes Fräulein, Namens Simprecht, die in der Stadt in dem Rufe einer sehr bösen Zunge stand – ,,wollen sich der Herr Doctor ebenfalls impfen lassen? Daran thun Sie vollkommen recht; ich selber habe den Entschluß gefaßt, mich der Operation noch einmal zu unterziehen, und erwarte nur noch eine Freundin. Es ist jetzt eine schwere und gefährliche Zeit!“
„Ach, Fräulein Simprecht – sehr erfreut, Sie zu sehen. Nein, Sie entschuldigen, ich bin nur in Begleitung der jungen Frau Notar Erich hierher gekommen, und hoffe, daß uns bald die Reihe trifft – Fräulein Schwester befinden sich doch wohl?“
„Oh, ich danke Ihnen vielmals, vortrefflich – das heißt, sie hat sich vor acht Tagen den Fuß vertreten und die Rose im Gesicht und muß das Bett hüten.“
„Oh, das bedauere ich ja sehr – aber Sie entschuldigen, mein werthes Fräulein, ich muß mich doch jetzt einmal nach meiner Schutzbefohlenen umsehen, denn ich glaube, unsere Zeit kommt bald.“ Er drückte sich dabei auf die Seite und dankte Gott, der Unterhaltung der Dame diesmal noch so rasch entkommen zu sein. Sie stand wenigstens in dem Rufe, daß sie ihre Opfer sonst so leicht nicht wieder los ließ.
Ein paar junge Damen, die sich gerade hatten impfen lassen und eben wieder aus der Stube heraus kamen, redeten ihn übrigens auch noch an und frugen ihn lachend, ob er sich vor den Pocken fürchte – seiner Schönheit wegen; der Frau Stadträthin Liebert lief er in den Weg und der Frau Kreisbaumeister Wölmerding, und dankte seinem Gott, als er von der jungen Frau Erich endlich erfuhr, daß ihre Nummer jetzt gleich daran kommen würde, und sie also nicht mehr lange zu warten brauchten. – Es war schon halb zwölf Uhr vorüber.
Endlich kam die Zeit, wo sie ihren „süßen, zuckrigen Fettengel“ – junge Mütter erfinden manchmal die wunderlichsten Beinamen für ihre Erstgeborenen – der „Schlachtbank“ über /59/ liefern sollte, wie sie zitternd sagte, aber es half eben nichts – es mußte ja sein, um den süßen Schatz vor der furchtbaren Krankheit zu schützen, und der liebenswürdige, zu Allem bereite und jeder Aufopferung fähige Doctor wurde nur noch gebeten, auf Mantille und Sonnenschirm und die Flasche der Kleinen – was in dem Saal zurückgelassen wurde, Acht zu geben, als auch schon der Ruf „Nr. 172“ durch den Saal schallte und sie sich eilig dort hinüber verfügten.
Doctor Forbach war sich jetzt für kurze Zeit allein überlassen, da er aber das alte Fräulein Simprecht, die außerdem eine Toilette wie ein junges Mädchen trug, wieder durch den Saal streichen sah und sie in dem vielleicht nicht unbegründeten Verdacht hatte, daß sie ihn aufsuche, drückte er sich in eine der entfernteren Ecken, wo besonders die ärmeren Leute saßen, und von wo er die Thür des Impfzimmers auch im Auge behalten konnte, um dort gegen jeden Angriff mehr geschützt zu sein. Seine Lage hier wurde ihm fatal, und nur das tröstete ihn dabei, daß er jetzt bald daraus erlöst würde. Stadtphysikus Baumann arbeitete außerordentlich rasch, und in höchstens zehn Minuten durfte er darauf rechnen, daß Alles vorüber war.
Um seine Nachbarschaft hatte er sich indessen wenig bekümmert. Es waren meist Frauen aus den unteren Klassen, die, jede ihr Kind auf dem Arme, zusammen ein lebhaftes Gespräch unterhielten. Ihrer Unterhaltung nach schienen auch Einzelne davon gar nicht mit der Impfung einverstanden zu sein und es nur für eine neue Steuer zu betrachten, die ihnen der Stadtrath auferlegte. Wenn Andere das nun widerlegten, ließen sie sich trotzdem nicht überzeugen und murrten, was jetzt Alles von einem armen Manne verlangt würde, und wie die Lebensmittel von Tag zu Tag im Preise stiegen, und wie das eigentlich noch einmal Alles werden sollte.
Die Reihe herunter war eine junge, sehr anständig gekleidete Frau gekommen, die ebenfalls, wie alle Uebrigen, ein kleines herziges Kind auf dem Arme trug, aber ganz merkwürdig bleich und angegriffen aussah. Sie hielt auch mit keiner der übrigen Frauen Verkehr, sprach wenigstens mit keiner und schien sich nur allein mit ihrem Kinde zu beschäftigen, das sie oft an sich /60/ drückte und küßte, während das kleine liebe Ding zu ihr auflächelte und nicht die geringste Lust zeigte, an dem Concert der Uebrigen Theil zu nehmen.
Forbach beachtete sie anfangs nicht; da er jetzt aber gar nichts zu thun hatte, fiel sein Blick wiederholt auf die lieben Züge der jungen Frau, in denen ein unverkennbarer Schmerz lag. Fürchtete sie für ihr Kind? Aber dazu schien keine Veranlassung, denn das kleine muntere Ding sah wohl und gesund genug aus, und die großen blauen Augen blitzten klar in die Welt hinein.
Unwillkürlich flog sein Blick aber immer wieder nach der Thür der Impfstube, denn seine kleine Frau Erich mußte ja jetzt bald kommen. Es war außerdem schon halb zwölf Uhr vorbei und seine Stunde rückte immer näher.
Während Forbach nach seiner Uhr und wieder nach der Thür sah, hing der Blick der jungen Frau für Momente forschend an seinen Zügen, als ob sie fast einen alten Bekannten in ihm zu sehen glaubte; aber sie mußte sich getäuscht haben, denn jetzt wandte sie sich wieder ab, schritt an ihm vorüber, etwa zehn Schritt in der Reihe, und setzte sich dann, wie ermüdet, auf den einen Stuhl, wo sie einen Moment den Kopf in die Hand stützte.
Aber es dauerte nicht lange, so erhob sie sich wieder – ihr Gesicht zeigte Marmorblässe – sie sah sich wie scheu im Kreise um – ihr Blick fiel wieder auf Forbach, und zu ihm tretend, sagte sie mit leiser angstgepreßter Stimme:
„Ach, dürfte ich Sie wohl bitten, mein Herr, die Kleine nur einen Augenblick für mich zu halten! Sie wird gewiß ruhig sein – nicht wahr, Herz?“ und sie küßte die Kleine auf die Lippen.
„Ich, Madame?“ sagte Forbach, von der Bitte doch etwas überrascht, indem er in seiner Gutmüthigkeit aber schon von seinem Stuhl emporsprang, „ich weiß nur nicht recht mit Kindern umzugehen.“
„Oh,