In meinem Zeugnis von 1973 stand oben im 'Kopf', dass ich aufgrund eines familiären Todesfalles fast ein halbes Jahr vom Unterricht befreit war und eine Beurteilung meiner Leistung anhand von Hausaufgaben erfolgte.
Genauso sind meine lieben Verwandten mit mir schon nach dem Tod meiner kleinen Schwester umgegangen. Ich war gerade einmal 3 Jahre alt, als die Heike mit 1 ½ Jahren starb. Alle haben heimlich geweint. Niemals hätte ich geglaubt, dass man sich an Geschehnisse aus so frühen Kindertagen erinnern kann, aber es ist so. Denn nach sehr vielen Jahren habe ich mal wieder versucht, von meiner Familie zu erfahren, woran die Heike damals gestorben ist. Und als ich dann erzählte, woran ich mich erinnern kann, waren alle nicht nur verwundert, sondern ich sah den Schrecken in ihren Gesichtern. Denn ich konnte mich noch genau an den Abend erinnern, als meine Eltern aus dem Krankenhaus nach Hause kamen und meiner Oma und meinen Schwestern von Heikes Tod erzählten. Aber auch zu dieser Zeit stieß ich auf eine Mauer des Schweigens, die ich niemals durchbrechen sollte.
Die kindliche Trauer ähnelt dem Erleben der Erwachsenen. Für die Entwicklung ist die Trauerreaktion eines Kindes nach dem Tod eines engen Familienangehörigen oder wie in meinem Fall, eines Elternteils und meiner kleinen Schwester nicht nur zweckmäßig, sondern evolutionär ein absolut notwendiger Anpassungsprozess. Die Trauer eines Kindes ist schwer erkennbar, weil sie oft nicht hörbar ist. Meine Familie hielt es für richtig, mir als Kleinkind nach dem Tod meiner Schwester nichts zu erzählen und auch im Alter von 8 Jahren nach dem Tod meiner Mutti nicht mit mir zu reden oder gemeinsam mit mir zu trauern. Ihre eigene Trauer haben sie vor mir versteckt und es wurde nie über die beiden gesprochen. Jedenfalls nicht mit mir.
Jeder trauert auf seine Weise und muss den richtigen Weg für sich finden, mit einem so schrecklichen Verlust umzugehen. Jedoch habe ich aufgrund dieses Verhaltens nicht gelernt, mit meiner eigenen Trauer umzugehen. Ich sah niemanden weinen und nur mein Vater konnte seine Tränen manchmal nicht zurückhalten, wenn er mich in den Arm nahm. Doch dann hatte ich das Gefühl, ihn trösten zu müssen.
Ich wusste doch noch gar nicht, wie ich reagieren darf und was mir geholfen hätte. Sollte ich schreien oder wütend sein? Durfte ich meine Tränen zeigen, während die anderen die ihrigen vor mir versteckten? Niemand hat doch von ihnen erwartet, dass sie mich sofort und auf der Stelle über alles informiert hätten, was für mich sicherlich auch eine absolute Überforderung gewesen wäre. Jedoch habe ich in all den Jahren immer wieder nachgefragt und niemals eine Antwort bekommen. Ich fragte wieder. Und wieder. Und wieder. Doch der Vorhang des Schweigens, hinter dem sie sich alle versteckt hatten, ließ sich nicht mehr beiseiteschieben. In unserem Hause wurde nicht über den Tod gesprochen!
Für mich wäre es jedoch sehr wichtig gewesen, gemeinsam mit meiner Familie Abschied von meiner Mutti und meiner kleinen Schwester nehmen zu können. Ich konnte nie wirklich um sie trauern, denn ich habe nicht gelernt, wie das geht.
Ein Kind sollte durch altersgerechte und sachliche Informationen zeitnah über den Tod eines nahestehenden Menschen aufgeklärt und zum Fragen ermutigt werden. Genauso wie für den Erwachsenen ist für das Kind das Abschiednehmen unglaublich wichtig. Durch das Verheimlichen entstand in mir nicht nur der Eindruck, dass mir nicht vertraut wurde, sondern auch, dass ich schuld am Tod meiner Mutti war. Jeder Angehörige sollte sich Unterstützung holen, wenn ihm ein Gespräch mit dem betroffenen Kind nicht möglich ist. Ich glaube, wenn Kinder merken, dass ihre Eltern nicht in der Lage sind, den Alltag zu meistern, übernehmen sie die Rolle des Erwachsenen. Also tröstete ich meinen Vater und versuchte ihm über den Verlust der Mutti hinwegzuhelfen. Ich bemühte mich, die Bedürfnisse meines Vaters zu erfüllen und steckte meine eigenen zurück.
Diese Rollenumkehr erzeugte bei mir die ersten psychischen Probleme und es sollte sich herausstellen, dass sie mich mein Leben lang begleiten würden.
Es wäre so unendlich hilfreich und wichtig für mich gewesen, mich gemeinsam mit meiner Familie an meine Mutti oder die Heike zu erinnern. Man hätte dafür sorgen müssen, dass ich nicht in die Rolle der Trösterin des Vaters über den Verlust von Ehefrau und Tochter schlüpfe und Verantwortung für das Wohlbefinden anderer übernehme. Sie machten mich zu ihrem 'Nesthäkchen', um über den eigenen Verlust der kleinen Schwester, der Enkelin und der Tochter hinweg zu kommen.
Vieles habe ich sicherlich auch verdrängt, denn mein Vater hat sich ja um mich gekümmert. Zum Beispiel ging er mit mir oft zum Friedhof, damit ich meiner Mutti meine neue Püppi zeigen konnte. Ein Spitzname übrigens, denn mein Vater mir gab. Egal wo wir waren, ganz gleich, was wir taten. Überall sprach er mich mit Püppi an. Nur wenn er etwas strenger werden musste, was nach seiner Aussage sehr selten vorkam, sprach er mich mit meinem Vornamen an. Ich möchte an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass mein lieber Mann diesen Spitznamen für mich übernommen hat und ihn sehr gern benutzt. Auch er spricht mich nur ganz selten mit meinen Vornamen an.
Ich habe mich in der Therapiezeit lange auch mit diesem Thema beschäftigt, um endlich zur Ruhe zu kommen. Es ist mir auch weitestgehend gelungen und mir wurde klar, dass jeder von ihnen auch einen unglaublichen Verlust erlitten hat. Der Ehemann, der seine geliebte Frau nach hartem Kampf gegen eine Krankheit verliert und nun, vor allem nach dem zuvor zu bewältigenden Verlust seiner jüngsten Tochter, in Sorge um sein Nesthäkchen ist. Oder die Mutter, die ihre Tochter verliert und sich nun um ihre Enkeltochter kümmern muss. Meine beiden 10 und 12 Jahre älteren Schwestern, die auch erst eine kleine Schwester und dann die Mutter verloren hatten. Diese Tragödien haben unsere Familie nicht zusammengeschweißt, sondern aus jedem von uns einen Einzelgänger gemacht.
Also bitte wer hätte mich wirklich trösten können? Jeder von ihnen musste seinen eigenen Weg der Trauer gehen. Es war für uns alle eine sehr schwere Zeit. Aber ich war doch noch ein Kind …
Wissenschaftler haben eindrücklich belegt, was es für ein Kind bedeutet, wenn ein Elternteil verstirbt. Kinder leiden oft Jahre, ja gar Jahrzehnte unter dem Verlust. Oft wirken sie traurig und verloren und dieses Verloren sein wird selten erkannt oder angemessen berücksichtigt. Denn der verbleibende Elternteil ist naturgemäß selbst von der eigenen Trauerarbeit eingenommen, so dass kaum ausreichend Raum für die Trauer des Kindes bleibt.
Langfristig gesehen haben Kinder nach dem Tod eines Elternteils ein erhöhtes Risiko, psychisch krank zu werden. Bereits seit langem herrscht in klinischen Fachkreisen die Überzeugung, dass ein größerer Anteil dieser Kinder längerfristig psychische Auffälligkeiten entwickeln.
In Gesprächen mit meiner Therapeutin habe ich gelernt, dass es stark vom Umfeld abhängt, inwieweit ein Kind trauert oder langfristig leidet. So habe ich als Kind beobachtet, wie meine Familie mit dem Verlust eines geliebten Menschen umgegangen ist. Daran habe ich mich orientiert und meinen Schmerz und meine Trauer nicht gezeigt. Bilder meiner Mutti und von Heike habe ich mir heimlich angeschaut; Tränen flossen nur unter der Bettdecke. Ich dachte, meine Tränen darf ich nicht zeigen.
In mir entwickelte sich eine große Angst vor Verlust und Verlassenwerden. Ich dachte, wenn sich jemand aus meiner Familie über mich ärgert, würde das einen Liebesentzug oder sogar ein Verlassenwerden für mich zur Konsequenz haben. Viele Jahre lang dachte ich, dass ich nach dem Tod meiner kleinen Schwester so unartig war, dass meine Mutti aus Gram über mich gestorben war. Es konnte doch gar nicht anders sein, als dass ich schuld am Tod meiner Mutter war. Darüber sprechen wollte mit mir aber niemand und es war auch niemand da, der mir dieses Gefühl wieder genommen hätte.
Zudem wollte ich niemandem zusätzlichen Kummer bereiten und versuchte nach außen hin, stark zu sein. Also war ich extrem artig, ordentlich und gehorsam und gab niemals Anlass zum Ärger. In der Schule war ich unauffällig und unter meinen Mitschülern beliebt. Während der gesamten Schulzeit hatte ich nur eine feste Freundin. Mit ihr ging ich durch dick und dünn und verbrachte die meiste freie Zeit mit ihr. Ich trieb mich nie herum und war immer pünktlich. Aber ich fühlte mich nicht geliebt und spürte auch niemals die Anerkennung meiner Familie. An Sätze, wie: das hast du gut gemacht oder