Aber es gab da ja auch noch den amtierenden Bundeskanzler, welcher so freundlich war, der SZ ein Interview zu gewähren. In dem sprach er von den notwendigen Reformen, lästerte ein wenig über die weltfremden Vorstellungen des Herrn Kirchdorf und zeigte sich fast so selbstbewußt wie der unvermeidliche Festerbelle. 38 Prozent der Wählerstimmen peilte er nun als neues Ziel für seine SPD an, in den Umfragen stand sie gerade bei 34, wohingegen die Union bei 42 % gehandelt wurde. Schräder glaubte daran, das noch verändern zu können, denn seiner Ansicht nach befand sich die SPD im Aufwind und da die Deutschen ohnehin ihn lieber als Bundeskanzler wollten, nahm er für sich in Anspruch, auch nach der Neuwahl weiter zu regieren, mit welchem Koalitionspartner auch immer. Daß es zusammen mit den Grünen wohl nicht reichen würde, wußte er genauso gut wie alle Anderen auch, doch so etwas sagte man natürlich nicht öffentlich, sondern hielt sich statt dessen lieber alle Optionen offen. Demzufolge war es für ihn das Wichtigste, daß seine Partei auch zukünftig die stärkste Fraktion im Bundestag stellte, denn dann würde man, also der Nöler Thorsten, der Bundespräsi, ob er wollte oder nicht, dem bliebe da gar nichts Anderes übrig, die SPD ein weiteres Mal mit der Regierungsbildung beauftragen. Schräder war guter Dinge und das war keineswegs nur gespielt, denn er kannte sich gut genug um zu wissen, daß er immer zu Wahlkampfzeiten zu absoluter Hochform auflief. Wie passend.
13.09.2005: Dialekt und Dialektik sind ja normalerweise zwei Paar Schuhe. In Kulmbach war das jedoch anders, denn dort wurde Bernhard Schräder von der örtlichen SPD-Abgeordneten als schöner Mann bezeichnet, was sich im fränkischen Dialekt natürlich ein wenig anders anhörte. Noch lustiger war dann allerdings, was Schräder daraus machte, denn der bedankte sich für das Kompliment, er wäre ein "scheener Mao". Damit hatte er die Lacher natürlich auf seiner Seite, doch ganz unpassend war das Wortspiel eigentlich nicht, denn selten war Schräder beim Regieren so sozialdemokratisch wie bei seinen Wahlkampfauftritten gewesen. Plötzlich hatte man da dann auf einmal das Gefühl, bei dem Mann könne es sich tatsächlich um einen waschechten Sozialdemokraten handeln; etwas, das man sich in den vorangegangenen Jahren nun beim besten Willen nicht vorstellen hatte können. Klar, in der Stunde der Not versammelten sich alle Beteiligten hinter dem Leitwolf, dem Alphatier und hofften, jenes würde das Ruder noch einmal herumreißen. An eine Fortsetzung von Rot-Grün dachte niemand mehr, denn es würde mit großer Wahrscheinlichkeit fünf Fraktionen im neuen deutschen Bundestag geben, von daher war das quasi unmöglich. Aber irgendwie hatte sich die Stimmung breitgemacht, es könne vielleicht doch noch etwas gehen.
Wie schon mal erwähnt, Oppositionen werden nicht gewählt, sondern Regierungen werden abgewählt und genau das bekam die Union immer deutlicher zu spüren. Je näher der Wahltermin rückte, desto knapper wurde der Vorsprung der Oppositionsparteien auf die Regierung. Von 45 oder 42 Prozent für CDU/CSU war schon längst keine Rede mehr, mittlerweile wäre man wohl bereits mit 40 oder gar den ominösen 38,5 % zufrieden gewesen, die Sträuber drei Jahre zuvor als Wahlergebnis eingefahren hatte. Schräder kämpfte, denn das beherrschte er, aber würde es reichen? Die Umfragen hatten sich beruhigt gehabt, Schwarz-Gelb lag hauchdünn vorne, aber das hatte noch nichts zu bedeuten, denn entscheidend waren nicht die Ergebnisse der Meinungsforscher, sondern das an der Wahlurne. Wer konnte schon mit Sicherheit ausschließen, daß Mao Schräder nicht doch wieder die Wahl gewinnen und als Bundeskanzler weitermachen würde können?
Mitte September 2005: "Auf die Unentschlossenen kommt es an", behauptete die SZ in ihrer letzten Ausgabe vor der Wahl und damit lag sie wohl richtig. Es wurde fleißig über mögliche Koalitionen spekuliert, doch wesentlich interessanter war eine andere Sache: Scheinbar gab es immer noch unheimlich viele Wählerinnen und Wähler, welche nicht wußten, daß die Zweitstimme die entscheidende war und das gab dann doch ziemlich zu denken. So kam es, daß Grünen-Wähler auch ihre Erststimmen dem Kandidaten der eigenen Partei gaben, welcher jedoch ohnehin keine Chance auf das Direktmandat hatte, anstatt den SPD-Kandidaten zu wählen, der mit den Stimmen der Grünen-Sympathisanten vielleicht seinen Konkurrenten von der Union überflügeln hätte können. Tja, dumm gelaufen.
In Berlin lag Spannung in der Luft, gemischt mit einer gespenstischen Ruhe. Sieben Jahre lang hatte Rot-Grün regiert gehabt, es würde wohl ziemlich lange dauern, bis so ein Bündnis wieder eine Mehrheit bekommen würde, wenn es je überhaupt noch einmal dazu kommen sollte. Alles war gesagt, nun konnte man nur noch warten, die erste Prognose würde zeigen, wohin das Pendel ausschlug. So eine Wahl war im Grunde nichts Anderes als Geschlechtsverkehr. Der Wahlkampf war das Vorspiel, die Wählerinnen und Wähler wurden angesprochen, heiß gemacht, zum Vorglühen gebracht, doch erst am Wahltag fand das Eindringen statt, nämlich dann, wenn die Stimmzettel in die Wahlurne geworfen wurden. Die Prognose stellte den ersten Höhepunkt des Wahlabends dar, manchmal reichte es da schon zum Orgasmus, ab und zu dauerte es aber auch bis zu den ersten Hochrechnungen. Welche Anhänger würden ihre Freude am 18.09.2005 am lautesten herausschreien, wer würde das deutsche Volk glücklich machen dürfen? CDU/CSU, oder die SPD, am Ende gar die FDP, vielleicht sogar die Grünen oder womöglich die unberechenbare Linke!
In Bayern gingen sowohl die Uhren als auch die Huren anders, deshalb kam es dort auf andere Gesichtspunkte an. Daß die CSU gewinnen würde, stand, wie immer, schon im Vornherein fest, es ging lediglich darum, wie hoch ihr Sieg dieses Mal ausfallen sollte. Die SPD hoffte darauf, nicht zu stark abgewatscht zu werden und die kleinen Parteien wünschten sich Ergebnisse von über fünf Prozent, auf denen die eigenen Bundesparteien dann als Fundament für das restliche Deutschland aufbauen konnten. Mittlerweile sah man es als strategischen Fehler an, daß sich Egmont Sträuber vor der Wahl nicht auf ein Ressort festlegen hatte wollen. Seine Taktik, quasi als Co-Kanzlerkandidat mitzumischen, war grandios gescheitert, doch nun kam es in erster Linie darauf an, viele Stimmen auf die Waagschale zu bringen und die FDP hinter sich zu lassen, denn sonst hatte man am möglichen zukünftigen Kabinettstisch nur wenig zu sagen. Der Wahltag konnte kommen und er stand auch schon vor der Tür. Würde die Union nach sieben Jahren in der Opposition wieder an die Regierung kommen oder sollte es Andrea Gerkel tatsächlich gelingen, einen sicher geglaubten Wahlsieg noch zu verspielen? Es hatte vor einigen Monaten Wahlumfragen gegeben, in denen der Union die absolute Mehrheit der Mandate zugetraut worden war. Bei 48 % der Wählerstimmen hatte sie seinerzeit gestanden, die SPD dagegen gerade mal bei 24 Prozent. Doch das war verdammt lange her.
18.09.2005: Und dann das! Und dann was? Eine Explosion, ein politisches Erdbeben, eine Katastrophe für die Einen, für die Anderen ein Abend im Glück. Was war passiert? Wozu gab es Meinungsumfragen, wenn sie rein gar nichts mit dem Wahlergebnis zu tun hatten? Die ersten und schlimmsten Verlierer des Wahlabends waren zweifellos die Demoskopen, dicht gefolgt von CDU/CSU. 35,2 Prozent der Stimmen, gerade mal 0,1 % besser als Hartmut Fohl bei seiner Abwahl 1998 und der hatte noch mehr Stimmen eingesackt gehabt, da es damals eine höhere Wahlbeteiligung gegeben hatte. Das war nicht nur ein Trauerspiel, sondern eine Blamage. Aber warum eigentlich? Die Union lag vor der SPD, die es auf 34,3 % gebracht hatte, war demnach stärkste Fraktion im Bundestag und konnte mit hoher Wahrscheinlichkeit den Kanzler, beziehungsweise die Kanzlerin, stellen. Wo also war das Problem? Nun ja, zunächst einmal hatte man mit einem starken Stimmenzuwachs, zumindest prozentual, gerechnet gehabt, aber nicht mit Verlusten. Außerdem hätte es niemand bei CDU/CSU für möglich oder überhaupt denkbar gehalten, daß die SPD nicht einmal einen Prozentpunkt hinter den eigenen Parteien liegen würde. Daß man quasi nur an der Spitze stand, weil die Konkurrenz ein bißchen mehr verloren hatte als man selbst. Hinzu kam, daß es zusammen mit der FDP für eine schwarz-gelbe Koalition nicht reichen würde und das war ja auch eines der wichtigsten Wahlziele gewesen. Immerhin 9,8 Prozent der Wählerstimmen hatten die Liberalen erreicht gehabt, doch zusammen kam man nur auf 45 % und die drei anderen Parteien zusammen auf gut 51 Prozentpunkte, von daher war der Rückstand schon ziemlich deutlich. Klar, Schwarz-Gelb lag über zweieinhalb Punkte vor Rot-Grün, aber da die Linkspartei mit 8,7 Prozent der Wählerstimmen ebenfalls ins Parlament eingezogen war, spielte das alles keine Rolle mehr. Wie war so etwas Schreckliches nur möglich?
Nun ja, fest stand, daß etliche Unionsanhänger die FDP gewählt hatten, um eine Große Koalition zu verhindern und Schwarz-Gelb zu ermöglichen. Der Schuß war allerdings eindeutig nach hinten losgegangen. Zwar freuten sich die